Räume der Arbeit: Von der frühneuzeitlichen Werkstatt zur modernen Fabrik@Werkstatt und Fabrik@(BE)@freigabe
CC by-nc-nd Karsten Uhl
Beitrag auf Englisch
Einleitung
Die Fabrik lässt sich leicht als das zentrale Symbol der industriellen Moderne identifizieren. William Blakes (1757–1827) Wort von den "dark satanic mills" aus seinem im Jahr 1808 gedruckten Gedicht "And did those feet in ancient times"1 fand Eingang in die englische Umgangssprache. Dadurch wurde der neue Ort der Produktion als wesentlicher Aspekt der sozialen Probleme ausgemacht, die mit dem neuen Wirtschaftssystem verbunden waren. Die historische Forschung zeichnet grundsätzlich ebenfalls das Bild eines tiefen Einschnittes, den die Fabrikarbeit mit sich brachte. Dabei lassen sich zwei neue Elemente identifizieren: eine Mechanisierung der Arbeit, die in diesem Umfang unbekannt war, sowie die räumliche Trennung von Familienleben und Arbeit.
Die in der Fabrik erforderliche Anpassung der menschlichen Tätigkeiten an den Maschinentakt und die damit einhergehende Arbeits- und Zeitdisziplin wurde als Kulturschock für die bisher in der Hausindustrie und der Landwirtschaft beschäftigten neuen Fabrikarbeiter beschrieben.2 Der britische Historiker Edward P. Thompson (1924–1993) hat in seinem klassischen Aufsatz zur Einführung der Zeitdisziplin diese Veränderungen der Arbeitsgewohnheiten sogar als Umwälzung der menschlichen Natur bezeichnet.3 Der Bruch zwischen den Arbeitsformen fiel vor allem in der Textilbranche, die während der industriellen Revolution einen Großteil der neuen Fabrikgründungen ausmachte, radikal aus, während der Wandel in anderen Branchen wie dem Maschinenbau graduell verlief. Handwerkliche Fähigkeiten und damit einhergehend weitgehend traditionelle Arbeitsformen und -beziehungen blieben in diesen Bereichen noch lange Zeit sehr wichtig.4
Der zweite wesentliche neue Aspekt, der sich im Zuge der Fabrikarbeit durchsetzte, war die Trennung der Lebenssphären in den Bereich der Arbeit und den Bereich von Haus und Familie. Schrittweise wurde mit der Zunahme der Fabrikarbeit, die in Teilen Europas erst ein gutes Jahrhundert nach den britischen Anfängen einsetzte, der Familienverband aufgelöst. Dieser Prozess setzte zwar nicht mit der Gründung der neuen Fabriken ein, denn die zentralisierte arbeitsteilige Produktion hatte bereits im Verlagswesen eine bedeutsame Rolle gespielt; mit der neuen Produktionsform erreichte diese Entwicklung jedoch eine neue Dimension.5 Die Verbreitung des Fabrikwesens lässt sich als Ausgangspunkt der Sozialen Frage und der zentralen politischen Auseinandersetzungen im 19. und 20. Jahrhundert begreifen. Der Ort der Fabrik war von zentraler Bedeutung für die Entstehung der Arbeiterklasse und ihres Klassenbewusstseins ein.6 Die Identität als Industriearbeiter hing eben nicht nur von der sozialen Lage, sondern zu einem gewissen Teil auch von der Erfahrung der Arbeit in der Fabrik ab.7
Vieles scheint also dafür zu sprechen, dass die Fabrik als neuer Ort der Produktion einen Epochenumbruch markiert. Allerdings gibt es wichtige begriffs- und wirtschaftsgeschichtliche Argumente, die gegen eine deutliche Zäsur und vielmehr für Kontinuitäten sprechen, die zu Produktionsformen in der Frühen Neuzeit bestanden. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde kaum zwischen den Begriffen Manufaktur und Fabrik unterschieden. Beide meinten eine Werkstatt mit einer relativ großen Zahl von Arbeitskräften.8 Insbesondere bei den frühen Textilfabriken in Großbritannien um 1800 deckte der Begriff Fabrik extrem unterschiedliche Erscheinungsformen ab: hier mechanisierte Großbetriebe in mehrstöckigen Neubauten, dort umgebaute Hütten mit ein oder zwei Spinnmaschinen und nicht einmal einem Dutzend Beschäftigten.9
Darüber hinaus deutet vieles darauf hin, dass es sinnvoll ist, von einem breiten und langsamen Übergangsprozess hin zur Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsform auszugehen. Das verlagsmäßig organisierte Heimgewerbe spielte dabei in großen Teilen Europas bis weit ins 19. Jahrhundert eine grundlegende Rolle für den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Hinsichtlich der Zahl der Beschäftigten blieb es noch lange Zeit bedeutender als die neuen Fabriken.10 Je nach der zugrunde gelegten Definition der Fabrik werden in der Forschung stärker die Momente der Zäsur oder der Kontinuität betont. Nimmt man die Vorstellung eines gewerblichen Großbetriebs, in dem räumlich zentralisiert und arbeitsteilig gearbeitet wird, zum Maßstab, erscheinen in der Tat die Kontinuitäten zu den älteren Manufakturen als Vorläufern der modernen Fabriken beachtlich. Erklärt man aber darüber hinaus den aufeinander abgestimmten Einsatz von Arbeits- und Antriebsmaschinen zum wesentlichen Element der Fabrik, rückt die Radikalität des technischen Umbruchs in den Fokus.11
Um die Fabrik von anderen Betriebsformen wie Manufakturen und Werkstätten zu unterscheiden, gilt es, die technologische Besonderheit und – damit zusammenhängend – die besondere Rolle des Faktors Mensch in der Produktion zu betonen. Seit Beginn der Industrialisierung war die Geschichte der Fabrik verknüpft mit der Vision der Automatisierung, die letztendlich auf die Vorstellung einer menschenleeren Fabrik abzielte. Bezeichnend ist dabei, dass von den ersten automatischen Spinnmaschinen über den Taylorismus bis hin zu den numerisch gesteuerten NC (Numerical Control)-Maschinen der Nachkriegszeit die Automatisierungsmöglichkeiten von Innovationen jeweils überschätzt wurden.12 Diese Technikwahrnehmung und die damit verbundenen Technikvisionen hatten durchaus reale Auswirkungen auf die Denkstrukturen und Entscheidungen von Unternehmern, Managern und sogar auf die organisierte Arbeiterschaft, da die Vorstellung des technischen Fortschritts die Betriebs- und Industriepolitik stark beeinflusste. Popularisiert wurde die Idee einer automatischen Fabrik bereits von Andrew Ure (1778–1857) und daran anschließend von Karl Marx (1818–1883). Ure prägte in seinem 1835 erschienen Philosophy of Manufactures den Begriff Fabriksystem und verstand darin das Ersetzen qualifizierter Handarbeit durch den Einsatz von Maschinen: eine "automatische" Fabrik.13 Marx schloss sich dieser Definition weitgehend an, wobei die politische Bewertung völlig anders ausfiel.14
Eine weitere Besonderheit der Fabrik lässt sich im 20. Jahrhundert ausmachen: die Problematisierung der Fabrik als Arbeits- und Lebensraum. Im Zentrum der vielfältigen Debatten um Rationalisierung und Humanisierung der Arbeit stand die Frage, wie die Potentiale der Arbeitskräfte sinnvoll in einem technisierten Arbeitsprozess eingebracht werden könnten. Besonders die räumlichen Gegebenheiten der Fabrik rückten in den Fokus: Arbeitswissenschaftler, Architekten, Ingenieure und Manager stellten sich dem Problem, einen Fabrikraum zu entwerfen, der sowohl nach rationellen als auch "humanen" Richtlinien gestaltet sein sollte. Die spezifisch moderne sachliche Gestalt wurde dabei häufig insofern problematisiert, als älteren Betriebsformen ein größerer Gehalt an menschlichen Beziehungen zugesprochen wurde.15
Im Folgenden wird die Entwicklung von Orten der gewerblichen Arbeit – Werkstätten, Manufakturen, Fabriken – in Europa von der Frühen Neuzeit bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts dargestellt. Wie bereits angesprochen lässt sich diese Geschichte nicht in die Form einer linearen Abfolge bringen, da über weite Phasen, besonders im 19. Jahrhundert, von einem Nebeneinander der verschiedenen Typen auszugehen ist. Transferprozesse von der Entstehung der ersten Textilfabriken über die zweite Phase der Industrialisierung ab ca. 1870 mit dem Maschinenbau als einer neuen Leitbranche bis hin zur Amerikanisierung der europäischen Fabriken unter dem Einfluss des Taylorismus und Fordismus werden in einem Exkurs anhand eines Schweizer Beispiels mit vielfältigen europäischen Bezügen zu erläutern sein.
Werkstätten, Manufakturen, Proto-Fabriken und die Hausindustrie
Um die Wende zum 19. Jahrhundert arbeitete noch die Hälfte der etwa 2,2 Millionen Gewerbetreibenden in Deutschland im Handwerk. Etwa 1 Million gingen der verlagsmäßig organisierten Heimarbeit nach und nur knapp 100.000 arbeiten in gewerblichen Großbetrieben, also in Manufakturen, Fabriken oder Bergwerken.16 Bei den Werkstätten der Handwerker handelte es sich in der Regel um Kleinbetriebe, die von Familienmitarbeit geprägt waren; anders als es zeitgenössische Abbildungen, die vorwiegend männliche Handwerker zeigen, suggerieren, war die Mitarbeit von Frauen in den Werkstätten üblich.17 Die durchschnittliche Betriebsgröße von 1,5 Personen lässt sich darauf zurückführen, dass Betriebe, in denen ein Meister allein arbeitete, etwa ebenso häufig waren wie die Zusammenarbeit mit nur einem Gesellen oder Lehrling. Eine größere Anzahl von Gehilfen gab es äußerst selten.18 Produziert wurde in erster Linie für den lokalen Bedarf, der Export spielte selbst bei den spezialisierten französischen Handwerkern keine große Rolle.19
Eine Arbeitsteilung fand in den Werkstätten nicht statt: Meister wie Geselle stellten jeweils ein komplettes Produkt her. Stattdessen kam es in der frühen Neuzeit zu einer Spezialisierung des Handwerks, in deren Folge einzelne Tätigkeiten eines handwerklichen Berufs ausgegliedert wurden. Auf diese Weise entstanden fortwährend neue Berufe.20 Die räumliche Trennung von Werkstatt und Wohnhaus setzte Ende des 16. Jahrhunderts ein. Schmiede, Färber, Gerber und Kürschner lagerten zunächst einige Tätigkeiten in Bereiche ihrer Wohnhäuser aus, bis sich schließlich zunehmend die Werkstatt in einem eigenen Gebäude durchsetzte. Die Praxis blieb aber lange Zeit vielfältig. Auch im 18. Jahrhundert waren die Werkstätten der Weber und Schneider in der Regel im Keller oder Dachboden des Wohnhauses untergebracht. Der Dachboden und die oberen Etagen des Hauses machten es möglich, das Tageslicht möglichst lange auszunutzen. Ein vermeintliches Spezifikum der modernen Fabrik muss allerdings relativiert werden: Die Werkstätten der Handwerker waren nicht mehr vollständig vom natürlichen Tageslicht und somit von den Jahreszeiten abhängig. Künstliches Licht in Form von Kerzen und Öllampen ermöglichten bereits eine teilweise, wenn auch im Umfang begrenzte Loslösung vom natürlichen Tagesablauf.21
Eine andere Form des kleinbetrieblichen Gewerbes, die im 19. Jahrhundert in Europa ähnlich weit verbreitet war wie das selbstständige Handwerk, trug dazu bei, dass sich die moderne Industrie und das kapitalistische Wirtschaftssystem durchsetzen konnten, nämlich die verlagsmäßig organisierte Hausindustrie. Von Teilen der Forschung wird sie als proto-industriell beschrieben. Im Gegensatz zu den selbstständigen Handwerkern bekamen die Beschäftigten in der Hausindustrie die Rohstoffe von einem Verleger geliefert, der sich auch um den Absatz kümmerte. Faktisch wurden die Beschäftigten so zu Lohnarbeitern. Damit bildete sich bereits vor der Fabrikindustrie ein kapitalistisches Abhängigkeitsverhältnis heraus.22 In einigen Varianten war die Abhängigkeit besonders deutlich: Der Verleger stellte Werkzeuge zur Verfügung, legte die Qualitätsstandards fest und bestimmte den Lieferzeitpunkt der Ware.23 In der besonderen Form des Schwitzsystems wurden die Produzenten dadurch zusätzlich unter Druck gesetzt, dass Zwischenmeister (sweater) zwischen ihnen und dem Verleger eingesetzt wurden. Derartige Ausprägungen der Hausindustrie lassen sich sogar als Vorläufer einer Arbeitsdisziplin betrachten, die dann in den Fabriken systematisch ausgebildet werden sollte. Das Verlagssystem nahm bereits im 14. Jahrhundert seinen Anfang, war im 16. und 17. Jahrhundert besonders im Textilgewerbe verbreitet und verschwand erst nach und nach im 20. Jahrhundert.24 Grundsätzlich bestand eine Arbeitsteilung zwischen Land und Stadt weiter, denn die Endverarbeitung blieb Aufgabe des zünftigen Handwerks in den Städten.25
Obwohl aus diesem System nur sehr wenige Fabriken direkt hervorgingen und einige der Schwerpunktregionen der Hausindustrie nach deren Abschwächen im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Phase des wirtschaftlichen Verfalls durchliefen, war der langfristige Einfluss doch enorm. Die industriellen Kernräume Europas entsprachen weitgehend den frühneuzeitlichen Ballungsräumen des Gewerbes.26 Die bereits in der Hausindustrie erfolgte Ausbildung von Fähigkeiten und Kontakten, Handelsinfrastrukturen, Arbeits- und Konsumgewohnheiten lassen sich als wichtige Voraussetzung für die Industrialisierung in England und darauf folgend in den übrigen Teilen Europas betrachten.27 In diesem Sinne sind die vielen unscheinbaren Orte der Arbeit, wie die ländlichen Weberhütten und Schmieden ebenso wie die Spinnzimmer der Frauen, in ihrer Gesamtheit von größerer Bedeutung für die Herausbildung des Fabrikkapitalismus als die wenigen großen Manufakturen,28 über die noch zu sprechen sein wird. Auch die frühe Arbeiterbewegung lässt sich nicht vollständig durch die neue Situation des Fabrikkapitalismus erklären, vielmehr gibt es gewisse Anknüpfungspunkte an die Traditionen der Heimarbeit.29
Das gleichzeitige Bestehen von Fabrikwesen, Hausindustrie und Handwerk prägte nicht nur die deutschen Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.30 Auch die norditalienische Weberei war – sogar bis zum Ende des 19. Jahrhunderts – vom Nebeneinander der Fabrik und der Hausindustrie gekennzeichnet.31 Im früher industrialisierten Frankreich machten noch 1870 Kleinbetriebe zwei Drittel der industriellen Produktion aus. Die kleinen Werkstätten und die Heimarbeit fügten sich zunächst gut in das industrielle System ein.32 Die beiden wesentlichen Vorteile des Verlagswesens bestanden in den geringen Lohnkosten und der großen Flexibilität der Verleger. In Irland sorgten sehr niedrige Löhne folglich für eine verspätete Mechanisierung beim Weben.33 Selbst in der englischen Grafschaft Lancashire, dem Ausgangspunkt der industriellen Revolution, arbeiteten in den 1830er Jahren in der Baumwollindustrie genauso viele Arbeiter in kleinen Werkstätten wie in Fabriken. Auch hier waren also ein langsamer Übergang und ein längeres Nebeneinander der beiden Formen zu verzeichnen.34 Umgewandelte Wohnhäuser bestanden auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch als Elemente der Hüttenindustrie und waren von großer Bedeutung für die britische Textilindustrie. In den Jahrzehnten um 1800 herrschte daneben ein dreistöckiger Haustyp für Arbeiter vor, der in einem Stockwerk die Werkstatt vorsah.35
Die Bedeutung der Manufakturen wurde lange Zeit überschätzt. Quantitativ waren sie im Europa der Frühen Neuzeit weit weniger wichtig als Handwerk und Verlagssystem: Wirtschaftlich waren sie in der Regel wenig erfolgreich, weil kaum produktiver gearbeitet wurde, aber gleichzeitig größere Risiken bestanden. Ohne staatliche Förderungen wäre das Manufakturwesen nicht denkbar gewesen.36 Überhaupt gab es kaum Manufakturen, die dem Bild einer großen Fabrik ohne Maschinen entsprachen. Weit verbreitet war hingegen die Mischform der dezentralen Manufaktur: In einer relativ kleinen zentralen Produktionsstätte wurde die Endfertigung durchgeführt, die wesentliche Arbeit wurde dagegen im angeschlossenen Verlagssystem in Heimarbeit verrichtet.37 Die ersten frühneuzeitlichen Großbetriebe, die aufgrund ihrer relativ starken Mechanisierung als Proto-Fabriken bezeichnet werden können,38 entstanden im Zuge der Waffenherstellung im 15. Jahrhundert und der Textil- und Metallbranche des 16. Jahrhunderts. Allerdings waren bis zum Ende des 16. Jahrhunderts selbst in westeuropäischen Großbetrieben zumeist lediglich 10 bis 20 Mitarbeiter beschäftigt,39 und die zentrale Produktionsphase wurde weiterhin in Handarbeit erledigt.40 Letztlich wurden selbst in diesen wenigen Ausnahmebetrieben Maschinen nicht systematisch, sondern weitgehend isoliert nur an wenigen Stellen des Produktionsprozesses eingesetzt.41
Qualitativ hatte die Manufaktur gleichwohl einige Bedeutung. Weniger bestand diese darin, dass die Arbeiter hier an zerlegte Produktionsschritte gewöhnt wurden.42 Der Teil der Fabrikarbeiter, die zuvor diese Erfahrung gemacht hatte, fiel nicht ins Gewicht. Nur in wenigen Branchen, wie der Seidenzwirnerei und der Papierherstellung, ist tatsächlich eine weitgehende Kontinuität und ein direkter Übergang von der Manufaktur zur Fabrik auszumachen.43 Die Manufakturen waren jedoch ein wichtiger Ort für den technologischen Transfer innerhalb Europas. Bereits die kleinen Werkstätten Europas waren von einer hohen Mobilität der Handwerker geprägt, insbesondere durch die Zunftwanderungen deutscher und französischer Gesellen. Diese Reisen trugen zwar kaum dazu bei, technische Wissensbestände auf dem Kontinent zu verbreiten und anzugleichen, mehrten jedoch die Arbeits- und Lebenserfahrung der Akteure.44
In den Manufakturen hingegen war der Zusammenhang zwischen Migration und Innovation beträchtlich. So flohen italienische Glasmacher, Seidenweber, Tuchbereiter und Baumeister im 16. Jahrhundert vor der spanischen Inquisition nach Deutschland. Ein Großteil der im 17. Jahrhundert aus Frankreich fliehenden Hugenotten ließ sich zwar in den Niederlanden oder England nieder, den größten Einfluss hatten sie jedoch mit der Gründung von Gobelinmanufakturen und Strumpfwirkereien im relativ rückständigen Mitteleuropa.45 Die europäische Verflechtung wird an preußischen Manufakturen besonders deutlich, die von Hugenotten betrieben wurden und Arbeiter aus Mittelfrankreich beschäftigten.46 Die Manufakturen ebneten zum Teil den Weg zur Wiederaufnahme eines zuvor bereits abgebrochenen Transferprozesses: Beispielsweise wurde die in Italien seit dem 13. Jahrhundert genutzte Seidenzwirnmühle bei ihrem ersten Transfer nach Deutschland im Jahr 1431 in Köln verboten, im späten 17. Jahrhundert etablierte sie sich jedoch in deutschen Manufakturen.47 Die Anzahl großer Manufakturen blieb zwar insgesamt relativ gering, allerdings gab es am Ende des 18. Jahrhunderts einige Großbetriebe mit mehreren hundert Beschäftigten, in wenigen Fällen überstieg die Zahl sogar 1.000.48 Die größte Konzentration von Manufakturen gab es zu dieser Zeit in Barcelona mit knapp 100 Großbetrieben dieser Art.49
Frühe Fabriken
Wann der Übergang vom frühneuzeitlichen Großbetrieb zur industriellen Fabrik stattfand, ist umstritten. Für die Bezeichnung als erste moderne Fabrik bieten sich zwei englische Textilfabriken aus dem 18. Jahrhundert an, die beide etwa 300 Arbeiter in einem fünfstöckigen Neubau beschäftigten: Thomas Lombes (1685–1739) Seidenfabrik, die in Derby 1721 fertiggestellt wurde, und Richard Arkwrights (1732–1792) Maschinenspinnerei in Cromford von 1771.50 Betriebe wie Walkmühlen, Färbereien, Seidenfabriken, Webereien, Kattundrucker und Segelmacher verwiesen bereits im frühen 18. Jahrhundert auf die bevorstehende Entwicklung hin zur Fabrik.51 Lombes Seidenfabrik setzte im Gegensatz zu Manufakturen, wo dies nur in Ansätzen geschah, in großem Umfang Kraft- und Arbeitsmaschinen, Wasserkraft und Zwirnmaschinen ein. Der Anstoß zum Maschineneinsatz ist als Folge der britisch-französischen Kriege um 1700 zu betrachten, als die Preise für Seidenprodukte anstiegen und die Lieferungen unzuverlässig wurden. Die Mechanisierung gelang über einen Transfer italienischer Technik, den Lombes Bruder John durch seine Spionage- und Schmuggeltätigkeit ermöglicht hatte. In der Aneignung dieser Technik wurden in der Folge Verbesserungen an ihr durchgeführt.52 Mithilfe ähnlicher Formen der Spionage war es auch während der industriellen Revolution üblich technische Neuerungen zu übernehmen, allerdings wurde nun die britische Technik das Ziel kontinentaleuropäischer Ausspähungen.53
Arkwrights erste Fabrik aus dem Jahr 1771 stellt demgegenüber zunächst eine graduelle Weiterentwicklung dar, da mehr Kapital eingesetzt und die Arbeiterschaft verstärkt diszipliniert wurde. Entsprechend der eingangs vorgeschlagenen Definition lässt sich Arkwrights Einrichtung allerdings auch als die erste moderne Fabrik verstehen: Der qualitative wie quantitative Einsatz von Maschinen hatte sich verändert und die Idee einer (Teil-)Automatisierung schien auf. In Arkwrights Maschinenspinnerei setzte man umfassend auf die Prinzipien der Arbeitsteilung und der Fließfertigung.54 In den Großbetrieben des frühen 18. Jahrhunderts, zu denen Lombes Seidenfabrik zählte, wurde die Arbeitsgeschwindigkeit hingegen von Menschen und nicht von Maschinen bestimmt. Es gab noch unregelmäßige Belastungsphasen, die sich mit Ruhephasen abwechselten.55 Weitgehend arbeitete man traditionell; der Umstellungsschock, den die Textilarbeiterund -arbeiterinnen in der industriellen Revolution erlebten, blieb aus. Es fand auch kein umfassender Umbruch statt: Nachdem Lombes Patent 1732 abgelaufen war, wurden nur sehr wenige große Seidenfabriken gegründet. Hauptsächlich bezeichnete der Begriff silk mills kleine Werkstätten, die sich häufig in unmittelbarer Nähe der Wohnhäuser befanden.56
Erst Ende des 18. Jahrhunderts waren allmählich die Voraussetzungen für den Bau großer moderner Fabriken gegeben. Nun konnten Wellen und Antriebe, die zuvor aus Holz angefertigt wurden, mit Gusseisen hergestellt werden. Ab 1820 setzte man vermehrt Schmiedeeisen zu diesem Zweck ein. Durch diese Fortschritte beim Baumaterial wurden Fabriken in größeren Ausmaßen überhaupt erst möglich.57 Wesentlich für den Übergang zu einer industriellen Produktion war außerdem der Einsatz von Gaslampen nach 1800, durch den die Produktion vom natürlichen Tagesverlauf zunehmend unabhängig wurde.58 Die Dampfmaschine als wichtiges Symbol der Industrialisierung darf in diesem Kontext nicht überschätzt werden. Ob auf Wasser- oder Dampfkraft zurückgegriffen wurde, hing von den jeweiligen regionalen Voraussetzungen ab.59 Selbst in Lancashire machte um 1840 die Wasserkraft noch ein Fünftel der Antriebskraft in der Baumwollindustrie aus. Auf dem europäischen Kontinent behielt sie noch während des 19. Jahrhunderts ihre große Bedeutung, weshalb die Industrie deutlich länger bei den Wassermühlen auf dem Land blieb und später in die Städte vordrang als in Großbritannien.60 Bis Mitte des 19. Jahrhunderts verlief der Industrialisierungsprozess auf dem europäischen Festland langsam und blieb hauptsächlich auf solche Regionen beschränkt, die als industrielle Kernregionen zunehmend an Bedeutung gewinnen sollten.61
Selbst in diesen Gegenden setzten sich Fabriken bis 1850 jedoch nur in wenigen Branchen durch.62 Außerdem arbeitete zu dieser Zeit auch in den Fabriken oft nur ein kleiner Teil der Arbeiter und Arbeiterinnen an Maschinen.63 Sogar im späten 19. Jahrhundert ähnelten Fabriken – etwa in der Region um Lyon – eher einer Ansammlung handwerklicher Werkstätten.64 Für eine lange Phase war also die Industrialisierung Europas von einer Fortexistenz der Werkstätten neben und in den Fabriken gekennzeichnet. Auch die Arbeitsorganisation war von zum Teil langen Transformationsprozessen charakterisiert. In den frühen Fabriken arbeiteten Familien oft noch zusammen, während die Familienhierarchien unter väterlicher Aufsicht weiter bestanden.65 Im Zuge der weiteren Mechanisierung entstand mit der Rolle des Fabrikherrn eine Besonderheit der Fabrik. Es galt, Arbeitszeit und -geschwindigkeit zu bestimmen, die Arbeitsdisziplin durchzusetzen und überhaupt die Organisation der Arbeit zu übernehmen.66 Am Arbeitsplatz übernahmen technisch qualifizierte Aufseher die Überwachung.67 Kinderarbeit blieb während des gesamten 19. Jahrhunderts in Europa weit verbreitet; erste Verbote Mitte des 19. Jahrhunderts konnten sich zunächst nicht durchsetzen.68 Ein Kennzeichen der frühen Fabriken bestand bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts: Die betriebliche Machtausübung beruhte auf persönlichen Beziehungen und mündlichen Anweisungen, eine Bürokratisierung der Herrschaft erfolgte kaum. Einerseits war die Arbeit von der Willkür der Meister geprägt, andererseits behielten die Arbeiter zunächst noch einen gewissen Einfluss auf Arbeitstempi und -rhythmen.69
Von den Textilfabriken des 18. Jahrhunderts zu den rationellen Fabriken ab dem späten 19. Jahrhundert
Die Entwicklungen innerhalb des Arbeitsortes Fabrik vom 18. bis zum 20. Jahrhundert lassen sich nur als eine europäische Transfer- und Verflechtungsgeschichte beschreiben. Beispielhaft soll dafür das Schweizer Unternehmen Escher, Wyss & Cie. herangezogen werden. Die Schweiz gehörte zu den ersten Industrialisierungsregionen auf dem Kontinent, hatte im Vergleich zum Vorreiter Großbritannien jedoch am Ende des 19. Jahrhunderts deutlich weniger Probleme auf neue Branchen, wie Maschinenbau, Elektroindustrie und chemische Industrie, umzusteigen.70 Escher, Wyss & Cie. steht paradigmatisch für diesen Übergang: Das Unternehmen wurde 1805 als mechanische Spinnerei in Zürich gegründet und stieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten Maschinenbaufirmen Europas auf.71 Diese an Arkwrights Fabriken angelehnte Einrichtung war die zweite mechanische Spinnerei in der Schweiz. Escher Wyss blieb bis ins späte 19. Jahrhundert der größte Schweizer Industriebetrieb und hatte eine große Ausstrahlung, da das Unternehmen auch in den Nachbarländern als Generalunternehmer für andere Betriebe Fabrikbauten plante. Schon Jahrzehnte vor der Gründung von Escher, Wyss & Cie. hatte ein Mitglied der Familie Escher, Heinrich Escher (1688–1767), 1730 bei Zürich eine Seidenmühle bauen lassen, die ähnlich wie Lombes Seidenfabrik bei Derby den italienischen Vorbildern nacheiferte. Dies gelang über die Anwerbung italienischer Vorarbeiter, die die notwendigen technischen Kenntnisse in die Schweiz mitbrachten.72
Bereits vier Jahre vor der Gründung der mechanischen Spinnerei von Escher Wyss wurde 1801 eine Fabrik in St. Gallen in Betrieb genommen. Da der Import englischer Maschinen sehr teuer war, permanente technische Probleme hinzukamen und eine große Abhängigkeit von englischen Experten bestand, war die Fabrik allerdings wenig erfolgreich und bestand nur bis 1819. Dieses Scheitern war jedoch durchaus bedeutsam für die weitere technische Entwicklung in der Schweiz, weil der Umgang mit der neuen Technik eingeübt worden war. Ab 1820 wurden vermehrt neue Spinnereien gegründet, um 1835 war dann bereits das Niveau der englischen und elsässischen Baumwollindustrie erreicht.73 Kaspar Escher (1775–1859), der in Italien zum Architekten und Kaufmann ausgebildete Gründer von Escher, Wyss & Cie., sorgte für die günstigere Einfuhr englischer Maschinen. Dies gelang, indem er in Rouen geschmuggelte Spinnmaschinen von einem englischen Fabrikanten kaufte, selbst Industriespionage in England betrieb und u.a. die Spinnmaschine Jenny-Mule in die Schweiz schmuggelte. Entscheidend war allerdings der weitere Ausbau der Spinnerei, für die 1822 ein schottischer Ingenieur gewonnen werden konnte, der wiederum das nun technisch neueste Schmuggelgut, eine Baumwollauflegemaschine, aus England mitbrachte. Auch das Fabrikgebäude durchlief auffallend früh eine Modernisierung, die die Arbeit zu einem gewissen Grad unabhängig von Tages- und Jahreszeiten machte. Schon kurz nach der Einführung in englischen Fabriken installierte man 1814 eine Gasbeleuchtung, im nächsten Jahrzehnt folgte eine Dampfheizung.74
Besonders wichtig war der frühzeitige Aufbau einer Maschinenbauabteilung, die bereits in den 1830er Jahren für den Betrieb bedeutender wurde als die eigene Spinnerei. Auch hierfür erwiesen sich Kontakte nach England als hilfreich, wo Eschers Sohn Albert zum Maschinenbauer und Manager ausgebildet worden war. Ab Mitte der 1820er Jahre übernahm er die Leitung des Maschinenbaus bei Escher Wyss. Obwohl Escher Wyss die ersten Schweizer Dampfmaschinen baute, waren diese als Kraftquelle für das Unternehmen von weitaus geringerer Bedeutung als oftmals generell für die Industrialisierung im 19. Jahrhundert angenommen. Wie in der Schweiz noch bis ans Ende des Jahrhunderts üblich, stellte die Dampfkraft nur einen Hilfsantrieb dar, falls die kostengünstigere Wasserkraft witterungsbedingt ausfiel.75
Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts nahm Escher Wyss für die industrielle Entwicklung in Deutschland eine wichtige Rolle ein. 1839 bestellte der Staat Württemberg die Lieferung einer mechanischen Leinenspinnerei nach Urbach, und 1857 nahm Escher Wyss im Württembergischen Ravensburg eine Filiale in Betrieb.76 Ein Festhalten an althergebrachten Herangehensweisen beim Fabrikbau stellte das Mutterunternehmen Ende des 19. Jahrhunderts vor Probleme. Baute man eine neue Fabrik, stand traditionell die Kostenreduzierung im Mittelpunkt, so dass das Fabrikgebäude auch im späten 19. Jahrhundert als eine reine Hülle der Produktion betrachtet und der Materialfluss architektonisch nicht berücksichtigt wurde.77 Erst kurz vor der Jahrhundertwende nahm man einen Neubau mit moderner Gesamtplanung in Betrieb, aber die Maschinenausstattung war auf einem Stand, der schon rasch als veraltet galt. Im 20. Jahrhundert büßte Escher Wyss seine Bedeutung ein.78
An der Karriere des Ingenieurs und Managers Fritz Wolfensberger (1865–1931) lässt sich gut erkennen, inwieweit die Entwicklung von Fabriken ab dem späten 19. Jahrhundert wiederum durch europäische (und transkontinentale) Austauschprozesse geprägt war. In Zürich geboren, absolvierte Wolfensberger seine Lehrzeit als Schlosser bei Escher Wyss, wurde am Kantonalen Technikum im Winterthur zum Ingenieur ausgebildet und sammelte erste Berufserfahrungen in Schottland. Beeinflusst von amerikanischen Impulsen zur Betriebsführung, dem Systematic Management, und später dem vom Frederick W. Taylor (1856–1915)[] geprägten Scientific Management, scheiterte Wolfensberger mit seinen Erneuerungsideen von 1891 bis 1904 nacheinander bei der Kölner Gasmotorenfabrik Deutz, bei der Schweizer Maschinenfabrik Oerlikon und bei seiner Rückkehr zu Escher, Wyss & Cie. Letztere hatte zwar explizit nach einem – am besten amerikanischen – Ingenieur zur Modernisierung der Fabrik gesucht, war aber letztlich nicht bereit, Wolfensbergers radikale Vorschläge umzusetzen. 1904 kehrte Wolfensberger nach Köln zu Deutz zurück, wo er nach einer Umstrukturierung der Führung den nötigen Freiraum hatte, um seine Ideen umsetzen zu können. Die Erfahrung aus mehreren europäischen Maschinenbauunternehmen, die Kenntnisse amerikanischer Vorstellungen zur wissenschaftlichen Betriebsführung und eine Studienreise in die USA sorgten dafür, dass Wolfensberger die Produktion bei Deutz schon vor dem Ersten Weltkrieg auf Massenfertigung umstellte. Neben der Modernisierung des Maschinenparks, die mithilfe von Krediten finanziert wurde und deren Schwerpunkt auf Spezialmaschinen lag, kam es zu weitreichenden Veränderungen der Arbeitsräume .So wurde die Fabrik plangemäß nach den Prinzipien des Produktionsflusses umstrukturiert. Zudem zielten die Rationalisierungsmaßnahmen darauf, die hygienischen Verhältnisse zu verbessern, da dem Faktor Mensch nach Wolfensbergers Überlegungen – die in vielen Aspekten paradigmatisch für erfolgreiche Manager seiner Zeit waren – mit Blick auf die Produktion ein großer Stellenwert zukam.79
Rationelle Fabriken
Auch wenn der Begriff der industriellen Rationalisierung vor allem ab den 1920er Jahren populär wurde, zeichnete sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts nicht nur in den USA,80 sondern auch in Europa die Verbreitung des Rationalisierungsgedankens ab. Während die Arbeit in den frühen Fabriken noch traditionell auf persönlichen Beziehungen und mündlichen Anweisungen beruht hatte, entstanden nun neue Formen der Fabrikorganisation, die stärker auf Schriftlichkeit und Bürokratisierung beruhten.81 Gleichzeitig wurden Arbeitsteilung und Mechanisierung vorangetrieben, zunehmend angeleitet vom Gedanken des Produktionsflusses. Die Einführung des ersten Fließbands 1913 bei Ford in Detroit führte zwar dazu, dass diese Ideen auch in Europa breit diskutiert und vor allem von einigen Großkonzernen der Automobil- und Elektroindustrie umgesetzt wurden, gleichzeitig arbeiteten aber beispielsweise 1930 in Deutschland nur 80.000 Arbeiter und Arbeiterinnen in der Fließ- oder Fließbandfertigung.82
Im späten 19. Jahrhundert gewann die Fabrik als produktiver und sozialer Raum an Bedeutung. Auch in dieser Hinsicht entwickelten sich die USA zum Vorbild für die europäische Industrie.83 Das Fabrikgebäude war nun nicht mehr eine reine Hülle für die Produktion, sondern wurde nach und nach als wesentlicher Bestandteil des technologischen Fertigungsprozesses erkannt.84 Eine wichtige Voraussetzung für die Planung und Gestaltung einer derartigen rationellen Fabrik stellte der Übergang zu einer neuen Energiequelle dar. Der Ersatz von Riementransmissionen durch elektrische Einzelmotoren wurde um die Jahrhundertwende möglich und setzte sich ab den 1920er Jahren flächendeckend durch.85
Daneben gingen die neuen Fabrikkonzepte auch auf die Arbeiter und Arbeiterinnen ein, deren Rolle bei der Steigerung der Produktivität in zweierlei Hinsicht reflektiert wurde: Zum einen sollte das Fabrikgebäude ihre Kontrolle ermöglichen, zum anderen die Arbeitsbedingungen verbessern. Einige Maßnahmen verknüpften beide Aspekte. So konnten große, vom Tageslicht erleuchtete Fabrikräume einfacher und von weniger Aufsichtspersonal überwacht werden, gleichzeitig waren verbesserte Luft- und Lichtverhältnisse ein wichtiges Element zur "Verschönerung der Fabriken".86 Dieses Schlagwort kam in Deutschland wie in Großbritannien in den1920er Jahren auf, begleitet vom neuen Interesse akademisch ausgebildeter Architekten am Fabrikbau, den zuvor zumeist Bauingenieure verantwortet hatten.87 Führende Vertreter der modernen Architektur wie Walter Gropius (1883–1969) widmeten sich in Theorie und Praxis dem Fabrikbau. Außerdem betonten sie, dass es sich um eine funktionale Schönheit handeln müsse, die sowohl den Produktionsgang vereinfachen als auch die Arbeitsfreude der Beschäftigten steigern sollte.88 Ähnliche Positionen zur Gestaltung des "Lebensraums" Fabrik vertraten Experten und Expertinnen aus der Soziologie, Arbeitswissenschaft und Betriebspraxis nach dem Ersten Weltkrieg.89 Schon seit den 1920er Jahren waren Überlegungen zur Humanisierung der Arbeit folglich ein wesentlicher, ergänzender Aspekt der Rationalisierungskonzepte und -praktiken.
Bei der Verbreitung von Fabriken nach dem Modell Ford in Europa nahmen die amerikanischen Architektenbrüder Kahn eine wichtige Rolle ein. Moritz Kahn (1881–1939), dessen Bruder Albert (1869–1942) für Fords berühmte Fabriken Highland Park und River Rouge verantwortlich war, führte bereits seit 1907 Truscon, die Londoner Filiale des Familienunternehmens.90 In seiner einflussreichen Schrift The Design and Construction of Industrial Buildings (1917) betonte Moritz Kahn, dass ein Aspekt der Rationalisierung auch stets darin bestehen müsse, durch die Gestaltung der Arbeitsumwelt positiv auf die Motivation der Arbeiter und Arbeiterinnen einzuwirken.91 Die Wirkung der fordistischen Produktionsweise und der Kahnschen Fabrikarchitektur blieb nicht auf das kapitalistische Europa beschränkt. Seit Mitte der 1920er Jahre fand ausgehend von den USA und Deutschland ein umfangreicher Technologietransfer in die Sowjetunion statt.92 Diese bestellte 1928 bei Ford eine Traktorenfabrik, die in Stalingrad gebaut wurde. Zusammen mit einem Expertenteam aus Detroit bildete der mit der Umsetzung beauftragte Moritz Kahn ein Gestaltungsbüro in der Sowjetunion, das aus 4.500 Architekten, Ingenieuren und Technikern bestand und bis 1932 für mehr als 500 Fabriken verantwortlich sein sollte.93
Der Einfluss der Rationalisierung reichte jedoch über die Fabrik hinaus: Die Zerlegung der Arbeit in einzelne Schritte sowie die Konzepte der Normierung und Standardisierung prägten das 20. Jahrhundert.94 Wenn wir eine breite Definition des Fordismus zugrunde legen, zeichnet er sich dadurch aus, dass sich historisch Massenproduktion und Massenkonsum sowohl als Erwartungshaltung als auch als Praxis durchsetzten. Die Arbeit in der Industrie wurde zunehmend zum Beruf, wodurch die Fluktuation der Arbeitskräfte und das Tagelöhnerwesen abnahmen. Hinzu kam die technokratische Vision einer Gesellschaft, die unter dem Leitstern der Effizienz gestaltet werden sollte. Die Phase von 1910 bis 1975 lässt sich entsprechend als "fordistisches Jahrhundert" bezeichnen.95
In einem gewissen Sinne wurden in dieser Form der Fabrik die Vorteile der frühneuzeitlichen Manufaktur und des Verlagswesens zusammen geführt. Während die Zentralisierung der Arbeit in den Manufakturen aufgrund des Stands der Technik allenfalls geringe Produktivitätsvorsprünge mit sich brachte, verursachte die Überwachung der Arbeiter relativ hohe Kosten. Der Verleger konnte sich dagegen auf die Selbstausbeutung der Heimarbeiter verlassen, die einen direkten Vorteil von einer erhöhten Produktion hatten.96 Die Fabrik des 20. Jahrhunderts verband beides: Neben externe Formen der Disziplinierung trat eine Internalisierung der Arbeitsdisziplin, nicht zuletzt häufig unter dem Druck von Lohnanreizen bzw. der Einführung von Stücklohn. Durch die Verbindung von Rationalisierung und Humanisierung sollten Arbeiter und Arbeiterinnen dazu motiviert werden, ihre subjektiven Potentiale einzubringen. Im historisch-spezifischen Arbeitsraum der modernen Fabrik arbeiteten nun Menschen, die sich nicht nur von den Beschäftigten in den frühneuzeitlichen Werkstätten und Manufakturen, sondern auch von der Arbeiterschaft in den Fabriken des 18. und 19. Jahrhunderts deutlich unterschieden.
Anhang
Quellen
Gropius, Walter: Sind beim Bau von Industriegebäuden künstlerische Gesichtspunkte mit praktischen und wirtschaftlichen vereinbar?, in: Der Industriebau 3 (1912), S. 5–6.
Marx, Karl: Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1972, vol. 1 (MEW 23). URL: http://www.archive.org/details/daskapitalkritik00marx [2021-07-08]
Ure, Andrew: The Philosophy of Manufactures: or, an Exposition of the Scientific, Moral, and Commerical Economy of the Factory System in Great Britain, London 1835. URL: https://archive.org/details/philosophymanuf00uregoog [2021-07-08]
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Anmerkungen
- ^ Für die Popularisierung der Verse sorgte vor allem die Vertonung als Hymne unter dem Titel "Jerusalem".
- ^ Pollard, Genesis 1965, S. 160; Landes, Prometheus 1973, S. 54.
- ^ Thompson, Time 1967, S. 57.
- ^ Kocka, Arbeitsverhältnisse 1990, S. 515.
- ^ Weber, Verkürzung 1997, S. 108.
- ^ Kocka, Arbeitsverhältnisse 1990, S. 375.
- ^ Osterhammel, Verwandlung 2010, S. 979.
- ^ Hilger, Fabrik 1975, S. 234.
- ^ Landes, Prometheus 1973, S. 72; Berg, Age 1985, S. 229.
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- ^ Reith, Werkstatt 2011, Sp. 988.
- ^ Vogler, Aufbruch 2003, S. 272; vgl. Pierenkemper, Gewerbe 2007, S. 11; Reininghaus, Gewerbe 1990, S. 7.
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- ^ Reith, Werkstatt 2011, Sp. 987.
- ^ Vogler, Aufbruch 2003, S. 274f.
- ^ Duchhardt, Europa 2003, S. 121.
- ^ Pierenkemper, Gewerbe 2007, S. 9, 14.
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- ^ Deyon, Proto-Industrialization 1996, S. 47; vgl. Kocka, Einführung 1984, S. 463.
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- ^ Pierenkemper, Gewerbe 2007, S. 19f.; vgl. Schultz, Handwerker 2002, S. 88f.; Reininghaus, Gewerbe 1990, S. 98.
- ^ Schultz, Handwerker 2002, S. 125, 128f.; vgl. Pierenkemper, Gewerbe 2007, S. 20.
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