Der deutsch-französische Grenzraum: Grenzraum und Nationenbildung im 19. und 20. Jahrhundert@Deutsch-französischer Grenzraum@(BE)@freigabe
CC by-nc-nd Thomas Höpel
Beitrag auf Englisch
Einleitung
Im Zuge der Herausbildung der französischen und der deutschen Nation kam es zu ausgeprägten Konflikten um die Festlegung der Grenze. Grenzregionen wie das Saarland, das Elsass und Lothringen wurden im nationalen und nationalistischen Diskurs symbolisch aufgeladen. Dabei wurden Konzepte wie das der "natürlichen Grenzen", das der Volkssouveränität oder der Sprachgrenzen ins Spiel gebracht, die dann die Herausbildung von kollektiven Vorstellungen vom Raum der französischen bzw. deutschen Nation beeinflussten und leiteten. Die unter dem Einfluss dieser Konzepte entstehenden "Mental Maps"1 lieferten jeweils unterschiedliche Ergebnisse, entwickelten im Rahmen des aufkommenden nationalistischen Diskurses eine erhebliche Dynamik und untermauerten wechselseitige Forderungen nach der Verschiebung der Grenze. Die im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen vorgenommenen mehrfachen Grenzveränderungen orientierten sich auch an solchen Raumvorstellungen. Das hatte in den betroffenen Regionen nachhaltige Folgen: Es kam einerseits zu einer Mischung von Institutionen, die auf deutschen und französischen Traditionen fußten, und zu Formen des kulturellen Austausches, also zu einer kulturellen Verflechtung, andererseits waren diese Grenzregionen auch stets Orte des Kulturzusammenstoßes. Die sich verändernde Grenze führte häufig zu neuen Spannungen und in der ansässigen Bevölkerung nicht selten zur Ablehnung der Nachbarn.
Der folgende Text nimmt diese Gemengelage von Kulturverflechtung und Kulturzusammenstoß2 im deutsch-französischen Grenzraum ins Visier. Dazu werden als Hintergrundfolie zuerst kurz die Grenzkonzepte in Frankreich und Deutschland sowie die territorialen Veränderungen vom Ende des 18. bis zum 20. Jahrhundert dargestellt. Im Hauptteil des Artikels geht es um die Formen der kulturellen Verflechtung, die es aufgrund der sich verändernden Grenzen in den Grenzregionen gab. Es wird gefragt, inwieweit sich die Bevölkerung in den Grenzregionen dem Streben nach Integration in und Assimilation an den jeweiligen Nationalstaat widersetzte und ob diese Reaktion zu besonders stark ausgeprägten Identifikationsmustern in den Grenzregionen geführt hat.
Grenzkonzepte in Frankreich und Deutschland
Die deutsch-französische Grenzziehung im 19. und 20. Jahrhundert ordnet sich in den Prozess der Nationalstaatsbildung ein, in dessen Gefolge in Europa ganz allgemein Grenzen als nationale Grenzen interpretiert und konstruiert wurden.3 Der Bruch wird im Falle von Frankreich und Deutschland besonders deutlich, weil die nationalen Emotionen durch die Revolutions- und Befreiungskriege nachdrücklich geweckt worden waren. Insofern konstruierten deutsche Reisende nach 1815 mental eine zunehmend lineare nationale Grenze, während sie zuvor die deutsch-französische Grenze als eine Zone mit sukzessiven kulturellen Übergängen wahrgenommen hatten.4
Die Revolutionäre von 1789 hatten im Zuge der politischen Umwälzungen die Idee der natürlichen Grenzen aufgegriffen, was im hier betrachteten Fall vor allem auf die Rheingrenze zielte. Dieses Konzept war seit der Renaissance von französischen Gelehrten im Rückgriff auf antike Texte formuliert worden. Es sollte das erhabene Alter und die ideale geometrische Gestalt Frankreichs unterstreichen, wurde aber von französischen Herrschern und Politikern auch aus pragmatischen Gründen bemüht. Schon Armand-Jean du Plessis de Richelieu (1585–1642) und Ludwig XIV. von Frankreich (1638–1715) [] griffen gern darauf zurück, wenn es opportun und nützlich schien, damit die territoriale Ausdehnung Frankreichs "historisch" zu begründen.
Während der Revolution trat die Idee hinzu, dass die Einwohner selbst über ihre nationale Zugehörigkeit entscheiden könnten. Dieses für die internationalen Beziehungen revolutionäre Prinzip der Selbstbestimmung wurde zum ersten Mal bei der Réunion der päpstlichen Enklave Avignon im Jahr 1791 angewendet. Zur Jahreswende 1792/1793 baten auch zahlreiche linksrheinische Gemeinden bei der französischen Nationalversammlung um eine Angliederung (Réunion) an die Französische Republik.
Allerdings verlor das Selbstbestimmungsrecht der Völker angesichts der zum Teil ablehnenden Reaktionen bei der von den Revolutionsarmeen "befreiten" Bevölkerung schon um die Jahreswende 1792/1793 an Bedeutung. Französische Eigeninteressen spielten eine immer größere Rolle, was einen Umschlag der Revolutionskriege in Eroberungsfeldzüge zur Folge hatte,5 so dass Analogien zur ludovizianischen Expansionspolitik konstatiert wurden.6 Das Prinzip der Selbstbestimmung erhielt nach 1814 im Rahmen des französischen Strebens nach territorialer Integrität erneut Bedeutung.
Die Deutschen setzten dem französischen Konzept von der Selbstbestimmung der Bewohner im 19. Jahrhundert das Konzept der Sprach- und Kultureinheit entgegen, das ebenfalls für expansionistische Ziele instrumentalisiert wurde.7 Die einander widersprechenden Konzepte mündeten im 19. und 20. Jahrhundert aufgrund der mehrfachen, aus Kriegen resultierenden Grenzverschiebungen zwischen Frankreich und Preußen/Deutschland in einen nationalistischen Diskurs beiderseits des Rheins und führten dazu, dass bestimmte Grenzterritorien in beiden Ländern hochgradig symbolisch aufgeladen wurden. Betroffen davon waren das Saarland und die linksrheinischen deutschen Gebiete, das Elsass und Lothringen.
Die Rheinkrise von 1840, ausgelöst durch französische Ansprüche auf das linke Rheinufer zur Kompensation einer außenpolitischen Niederlage im Nahen Osten, löste die erste große nationalistische Aufwallung in beiden Staaten aus, die in Preußen wie in Frankreich eine Langzeit- und Breitenwirkung entfaltete. Auf französischer Seite schürten u.a. der Historiker und Literat Edgar Quinet (1803–1875) oder der Romancier Victor Hugo (1802–1885)[] revanchistische Gefühle. Gegen die französischen Ansprüche brach in Deutschland eine spontane Gegenbewegung aus. Im September 1840 veröffentlichte Nikolaus Becker (1809–1845) sein Rheinlied, das enthusiastisch aufgenommen wurde, August Heinrich Hofmann von Fallersleben (1798–1874) dichtete sein Deutschlandlied und Ernst Moritz Arndt (1769–1860) reanimierte seine Kriegspropaganda aus der Zeit der Befreiungskriege.8 Somit kann die Rheinkrise als Auslöser für den Durchbruch des modernen deutschen Nationalismus betrachtet werden.9
Entstehende Wissenschaften wie die Geographie und die Geschichte haben diese nationalistische Aufladung in beiden Staaten mitgetragen. In Deutschland spielte so das Konzept der natürlichen Grenzen Deutschlands im 19. und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine Rolle. Die Geographen wollten damit eine Emanzipation ihrer Wissenschaft insbesondere von der Geschichte befördern. Die von den deutschen Geographen als natürliche Grenzen Deutschlands postulierten Zonen waren sehr abhängig von den politischen Konjunkturen, schwankten dementsprechend erheblich und dienten auch der Untermauerung von Gebietsansprüchen.10
Die nationalistische Aufladung der Diskussion um die deutsch-französische Grenze offenbart sich auch in der französischen Historiographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die als Meistererzählung das Bild einer am Ende des 18. Jahrhunderts relativ unbestimmten Grenze zwischen Frankreich und den deutschen Staaten schuf, was Forderungen nach einer Verlagerung der französisch-deutschen Grenze an den Rhein stärken sollte. Diese Darstellung vernachlässigte aber den Fakt, dass es im 18. Jahrhundert zu umfassenden Grenzregulierungen gekommen war, mit denen die französische Krone und die deutschen Fürstentümer ihre rechtlichen und ökonomischen Ansprüche gegeneinander zu einem großen Teil geklärt und dadurch auch im Elsass und in Lothringen relativ klare Besitzverhältnisse geschaffen hatten.11
Die deutsche Historiographie untermauerte demgegenüber die deutschen Ansprüche im Westen. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg begann ein "historiographischer Abwehrkampf", der das behauptete Deutschtum der verlorenen westlichen Grenzregionen quellenmäßig zu belegen suchte. Die daraus hervorgehende Volksforschung vernetzte sich rasch, wurde durch die Reichsregierung finanziell unterstützt und stellte sich nach 1933 zum Teil aktiv in den Dienst der nationalsozialistischen Annexionspolitik.12
Grenzveränderungen und Entstehung des Nationalstaats
Frankreich war seit dem Dreißigjährigen Krieg in Richtung Rhein expandiert, durch die Angliederung der Bistümer Toul, Metz und Verdun nach 1648, die Annexion von Strasbourg 1681 und die Eingliederung Lothringens im Laufe des 18. Jahrhunderts. Das konfessionell und territorial zerstückelte Elsass wurde im Prozess der Eingliederung in das französische Gebiet zunehmend geeint. Diese Entwicklung wurde während der Französischen Revolution durch die Schaffung der beiden Départements Bas-Rhin und Haut-Rhin und das im Jahr 1801 mit Papst Pius VII. (1742–1823) geschlossene Konkordat vollendet. Die Elsässer bekannten sich zu Frankreich, selbst wenn im Zuge der Radikalisierung der Revolution neue kulturelle Gegensätze aufbrachen.13 Die vollständige Integration des Elsasses in die Französische Republik heizte die außenpolitische Stimmung auf, weil deutsche Fürsten daraufhin ihre noch verbliebenen Besitz- und Abgabenansprüche aus elsässischen Besitzungen verloren. In den Verhandlungen der außenpolitischen Vertreter Frankreichs mit Preußen in den Jahren 1790 bis 1792 spielte die Frage der deutschen Fürsten mit Besitzungen im Elsass wiederholt eine wichtige Rolle.14
In den Revolutionskriegen weitete Frankreich seine Grenzen bis zum Rhein aus. Ende 1797 wurde das gesamte linksrheinische Gebiet an Frankreich angegliedert, es wurden vier neue Départements geschaffen: Sarre, Mont-Tonnere, Rhin-et-Moselle und Roer.15 Im Frieden von Lunéville 1801 erreichte Napoleon Bonaparte (1769–1821)[] auch die völkerrechtliche Anerkennung der Neuerwerbung. Bis dahin war der "provisorische" Charakter der Reunion von französischer Seite noch betont worden.16
Auf dem Wiener Kongress (18. September 1814–9. Juni 1815) wurden nach der Niederlage Napoleons die französischen Grenzen von 1792 wiederhergestellt, wobei 1814 noch Saarbrücken, die Festungen Saarlouis und Landau sowie weitere 44 Dörfer bei Frankreich verblieben. Erst nach der Schlacht bei Waterloo vom 18. Juni 1815 wurden sie an die preußische Rheinprovinz bzw. an Bayern angeschlossen.17
Die nach 1814/1815 erfolgte Grenzziehung stieß auf beiden Seiten des Rheins auf Ablehnung. Einerseits beklagten die Saarbrücker ihr Verbleiben bei Frankreich nach dem Ersten Pariser Frieden 1814 heftig,18 andererseits empfanden auch viele Franzosen die neue Grenzziehung als Verstümmelung. Zudem gab es bis in die 1820er Jahre Auseinandersetzungen um die genaue Festlegung der Grenze, die erst durch die Abschlussvereinbarung zwischen Preußen und Frankreich vom 23. Oktober 1829 endgültig beigelegt wurden. Die Grenze selbst sollte durch Grenzfestungen, die einige Kilometer von der eigentlichen Grenze entfernt lagen, gesichert werden. Regelrechte Grenzkontrollen blieben aber eine Seltenheit, die Grenze selbst war über weite Strecken nicht sichtbar, da nicht überall Grenzpfähle aufgestellt wurden.19
Im Gefolge des deutsch-französischen Krieges von 1870/1871 wurde das Elsass und der östliche Teil Lothringens von Frankreich abgetrennt und im neuen Reichsland "Elsass-Lothringen" vereint, das als Schutzgürtel des Deutschen Reiches gegen Frankreich präsentiert wurde.20 Das knüpfte auch an den nationalistischen Taumel von 1840 an, in dem der Gedanke vom urdeutschen Land Elsass-Lothringen bemüht worden war, das es zurückzugewinnen gelte. Zugleich ging es Preußen um die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes durch die Zusammenführung der Saarkohle und des lothringischen Eisenerzes.21 Die neue Grenze fiel auch nicht überall mit der Sprachgrenze zusammen. Metz wurde z.B. nur aus symbolischen und strategischen Gründen, als Symbol des deutschen Sieges und als Festungsstadt, einbezogen.22
Die Vereinigung der beiden geographisch, kulturell, sprachlich und historisch unterschiedlichen Gebiete Elsass und Lothringen wurde im Nachhinein als schwerer Fehler erkannt. Elsass-Lothringen besaß einen Sonderstatus innerhalb des deutschen Reiches und sollte möglichst rasch auch kulturell in das Reich eingegliedert werden. In Frankreich hingegen wurde das Elsass nach 1871 zum Herzen Frankreichs stilisiert. Die Annexion gab dem französischen Nationalismus neue Nahrung und schürte in Frankreich den Deutschenhass.23
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden Lothringen und das Elsass wieder an Frankreich angegliedert. Das gesamte linke Rheinufer wurde sofort nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 11. November 1918 durch französische Truppen besetzt.24 Das Saarland wurde im Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 unter die Verwaltung des Völkerbundes gestellt.25 Nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages fand 1935 dort eine Volksabstimmung statt, bei der sich die Bevölkerung für die Wiederangliederung an Deutschland aussprach. Die anderen besetzten linksrheinischen Gebiete wurden bereits zuvor in mehreren Schüben geräumt.26 Der letzte Versuch, den französischen Einfluss im Rheinland dauerhaft zu stärken, war im Herbst 1923 gescheitert. In der damaligen Krisensituation hatte Konrad Adenauer (1876–1967) Geheimverhandlungen mit Frankreich aufgenommen, um im Rheinland einen nach Westen geöffneten Teilstaat zu schaffen, was schließlich an der erfolgreichen Krisenbewältigung in Berlin scheiterte.27
Nach dem Frankreichfeldzug des NS-Regimes im Juni 1940 wurden das Elsass und Lothringen erneut an Deutschland angeschlossen, allerdings wurde dabei das Gebiet unterteilt. Das Elsass wurde dem Gau Oberrhein zugeschlagen, das Département Moselle bildete zusammen mit dem Saarland und der Pfalz den Gau Westmark. Auf diese Weise sollte jeglicher Partikularismus der Region von Beginn an unterbunden werden.28
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1945 wiederholte sich zunächst das Szenario von 1918. Frankreich strebte die Angliederung des gesamten linken Rheinufers an. General Charles de Gaulle (1890–1970) äußerte sich Anfang 1945 unmissverständlich:
Der Rhein bedeutet die französische Sicherheit [...] Frankreich ist nämlich wieder überfallen worden und fast daran zugrunde gegangen. Frankreich verlangt daher, dass alles Territorium diesseits jener natürlichen Grenze sein garantierter Besitzstand werde.29
Dieses Ziel entsprach sicher den verbreiteten Forderungen in der französischen Bevölkerung,30 konnte aber kaum mit Zustimmung der anderen Alliierten rechnen. Es war auch in den französischen Führungsgremien von Beginn an umstritten, widersprach den eigenen Prinzipien der Regierung und auch de Gaulle äußerte sich in der Folge weitaus vorsichtiger.31 So kam es zu einer Einengung der französischen Ambitionen auf das Saargebiet. Dieses war bereits im März 1945 von amerikanischen Truppen besetzt worden, welche am 10. Juni 1945 durch französische Besatzungstruppen abgelöst wurden. Das Saargebiet wurde zur selbständigen verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Einheit erklärt und einem unabhängigen Hochkommissar unterstellt – das war ein deutlicher Schritt zur Loslösung vom übrigen Deutschland.32 Das Abrücken von den französischen Maximalforderungen wurde zwar durch de Gaulles Rücktritt im Januar 1946 erleichtert, die Schaffung einer Wirtschaftsunion mit Frankreich bei Zusicherung einer politischen Autonomie signalisierte aber die weiter bestehenden französischen Ambitionen. Erst durch das gescheiterte Referendum über das Saarstatut 1955 wurde die Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet.
Grenzregionen als Räume von Verflechtung und Konfrontation
Die sich verändernde territorialstaatliche Grenze zwischen Frankreich und Deutschland hat die Existenz einer spezifischen Grenzgesellschaft befördert und zusätzlich ausgeprägt. Es existierte eine deutliche Spannung zwischen der häufig propagandistischen Grenzrhetorik, die eine bestimmte lineare Grenze durchzusetzen trachtete, und dem alltäglichen Leben in einer Grenzregion. Der deutsch-französische Grenzraum blieb lange eine Zone mit ähnlichen Lebensverhältnissen sowie wirtschaftlicher und kultureller Verflechtung, die durch politische und administrative Maßnahmen von Seiten der Nationalstaaten nur schwer zu durchtrennen war.
Der Akt der Grenzziehung durch staatliche Vereinbarungen sagt daher noch gar nichts über die Wahrnehmung der Grenze, die sich an der Grenze ausbildenden Identifikationen und insgesamt die "Nationalisierung" der Grenzregionen. Die Durchsetzung von Sprache, Recht und Verwaltung erforderte Zeit, so dass es unweigerlich zu Spannungen zwischen der rechtlichen Festlegung einer Grenzlinie und der Verfestigung dieser Grenze durch Wirtschaft, Verwaltung und Kultur kommen musste.
Die Revolution von 1789 als Quelle von Kultur- und Institutionentransfer
Ein wichtiger Ausgangspunkt für die Sonderstellung der Grenzregionen im 19. und 20. Jahrhundert war die territoriale Expansion Frankreichs im Gefolge der Revolution von 1789. Sie band einerseits das Elsass dauerhaft an Frankreich, andererseits wurden die bis dahin linksrheinischen Gebiete des Heiligen Römischen Reiches grundlegend umgeformt. Seit der Angliederung an Frankreich Ende 1797 kam es zur schrittweisen Einführung französischer Institutionen. Die Einführung der Gewerbefreiheit, die Aufhebung der Feudalrechte, Religionsfreiheit, die Gleichheit aller vor dem Gesetz und vor der Steuer sowie die Zivilehe formten die Gesellschaft grundlegender um, als es den rheinischen Revolutionsanhängern zur Zeit der Mainzer Republik von 1792/1793 gelungen war.
Um die Integration der neuen Départements zu beschleunigen, waren in den departementalen Zentralverwaltungen stets zwei der fünf Mitglieder Innerfranzosen. Rheinländer wurden im Gegenzug auch in den alten Départements auf hohe Posten gesetzt, um die rheinischen Eliten an Frankreich heranzuführen. Zugleich wurde Französisch als Amtssprache nachdrücklich gefördert, um die Integration zu beschleunigen. Der französische "Sprachimperialismus" wurde seit der Jahrhundertwende wiederholt kritisiert.33 Französisch sollte über die Schulen und auch durch Theatervorstellungen in der Bevölkerung verbreitet werden. Zudem wurde der Generalregierungskommissar der besetzten Rheingebiete, François Joseph Rudler (1757–1837), aufgefordert, die republikanische Gesinnung durch patriotische Feste und durch die Presse zu fördern. Die Universitäten in Köln, Mainz, Trier und Bonn wurden organisatorisch in französische Zentralschulen umgewandelt, ohne ihre eigenen Traditionen in Frage zu stellen. Erhebliche finanzielle Mittel flossen in den Aufbau der rheinischen Zentralschulen und besonders in ihre naturwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen.34
Ab 1802 erfolgte im Zuge des Friedens von Lunéville (1801) die vollständige Integration der linksrheinischen Gebiete in die Französische Republik. Die französische Politik verstärkte nun ihre Anstrengungen zur raschen kulturellen und sprachlichen Anpassung an Frankreich und zur Förderung des französischen Nationalbewusstseins in der rheinischen Bevölkerung. Die rheinischen Präfekten gründeten z.B. ökonomisch-patriotische Gesellschaften zur Förderung der Wissenschaft und Landeskultur, richteten in größeren Städten Museen, Schausammlungen und Bibliotheken ein und ermunterten die Kommunalverwaltungen zur Durchführung von Gewerbeausstellungen. Offizielle Publikationen erschienen zunehmend in französischer Sprache. Das Schulwesen wurde durch das napoleonische Schulgesetz von 1802 umgeformt und dem französischen zentralistischen System stärker eingegliedert. Die Zentralschulen wurden in Lyzeen umgebildet und stärker der französischen Zentralverwaltung untergeordnet. Höhere Ausbildung sollte vor allem an den Spezialschulen und Grandes Écoles in Innerfrankreich stattfinden. Im Sekundärschulbereich wurde Französisch als Unterrichtssprache weitgehend eingeführt. Als Amtssprache wurde es zudem auch auf den unteren Verwaltungsstufen zunehmend durchgesetzt; ab 1810 wurden französische Straßennamen eingeführt.35 Der Verkauf von Nationalgütern bewirkte einen weiteren Schub von Strukturveränderungen. Auch die Infrastruktur in den rheinischen Départements wurde ausgebaut. Die Eingliederung in den französischen Staat wurde im Übrigen durch Napoleons Kirchenpolitik und die Abschaffung des Revolutionskalenders, der 1793 vom Nationalkonvent eingeführt worden war, im Jahr 1806 erleichtert.
Inwieweit diese Assimilationspolitik Früchte trug, ist in der Forschung umstritten. Lange Zeit wurde eine geringe Tiefenwirkung konstatiert.36 Teil der Kritik war, dass im französisch besetzten Rheinland das Französische das rheinische Deutsch nicht im Entferntesten verdrängen konnte, obwohl es gerade über die Schule vermittelt werden sollte.37 Andere Forscher weisen aber darauf hin, dass eine deutlichere Sprachpolitik über die Verwaltung in den annektierten Rheindépartements initiiert wurde, deren Erfolge unverkennbar waren. So wurde das Französische als Verwaltungssprache und Sprache der Öffentlichkeit (etwa in Straßennamen, öffentlichen Anzeigen und Schulen) im Laufe der Zeit durchgesetzt und es entstand eine französischsprachige Teilöffentlichkeit, die von Angehörigen der Verwaltung dominiert wurde und die sich bei längerer Dauer der französischen Herrschaft auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt hätte.38 Diese These scheint plausibel, wenn man sich die Entwicklung im Elsass vergegenwärtigt, in dem im 18. Jahrhundert die Eliten zunehmend unter den Einfluss der französischen Kultur kamen. Während der Revolution und des Kaiserreichs wurden dann auch breite Bevölkerungsteile, insbesondere in den Städten, davon erfasst.39
Darüber hinaus wurde die Einführung und die Wirkungen des Revolutionskalenders und der Dekadenfeste (jeder Monat war in drei Dekaden unterteilt, deren jeweils letzter Tag als Ersatz für den christlichen Sonntag gefeiert wurde) in den annektierten linksrheinischen Gebieten untersucht und dabei keine große Öffentlichkeitswirksamkeit des Dekadenkultes, aber auch keine schwerwiegende Widerstandsbewegung dagegen konstatiert. Vielmehr zeugen die Reden deutscher Intellektueller und Verwaltungsbeamter bei den Dekadenfeiern von einer politisch-philosophischen Aneignung der Ideen der Revolution und einer Positionsnahme für die Französische Republik, wobei die Ideen der Französischen Revolution mit dem deutschen Staatsdenken der Aufklärung verbunden wurden.40
Auch ein großer Teil der Strukturreformen wurde trotz anfänglicher Ablehnung bei Teilen der Bevölkerung rasch akzeptiert. Nach den Befreiungskriegen kämpften die Rheinländer dann für die Erhaltung dieser Einrichtungen, die als "rheinische Institutionen" bezeichnet wurden und auch weiter Bestand hatten. So galt insbesondere die französische Rechtsordnung in der Folge im Rheinland fort. Das ursprünglich Aufoktroyierte war damit zu einem wichtigen Kern des rheinischen Selbstverständnisses geworden. Diese Entwicklung wurde dadurch erleichtert, dass für einen großen Teil der traditionellen Eliten, insbesondere den rheinischen Adel, aufgrund der Angliederung an Frankreich die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen nicht so gravierend waren wie in Innerfrankreich. Diese Gruppen bewiesen ein großes Adaptationsvermögen und konnten ihren Besitz sogar durch den Erwerb von Nationalgütern, insbesondere ehemals kirchlichen Besitzungen, ausweiten.41
Wichtig für das weitere 19. Jahrhundert war auch, dass es durch die französische Expansion bis zum Rhein zu einer Vereinheitlichung des Raumes kam. Die zuvor stark zergliederten linksrheinischen Gebiete wurde administrativ neu gegliedert und vereinheitlicht, was insbesondere den Handel mit dem Elsass und mit Lothringen belebte. Das änderte sich auch nicht durch die neue Grenzziehung nach 1815. Die damit geschaffene Zollgrenze unterband nicht den Warenverkehr zwischen Frankreich und Preußen und stellte auch für die dort lebende Bevölkerung kein Hindernis dar. Kleinhandel machte an der Grenze nicht Halt, und Bauern, die Grundstücke beiderseits der Grenze hatten, passierten sie problemlos. Für an der Grenze wohnende Personen war ihre Überquerung eine alltägliche Sache. Im Zuge der Industrialisierung nutzten lothringische Eisenhütten die Kohle aus den Gruben im Saargebiet, zudem nahm die Arbeitswanderung in beide Richtungen zu. Es handelte sich demzufolge um eine sehr durchlässige Grenze, die wirtschaftliche und familiäre Kontakte und Verknüpfungen nicht oder nur kaum behinderte.42
Die Annexion von Elsass-Lothringen und die deutschen Assimilationsversuche
Die enge wirtschaftliche Verknüpfung insbesondere der Metallindustrien der beiden Länder war ein Beweggrund für Deutschland, die lothringischen Gebiete nach dem Sieg über Frankreich 1871 zu annektieren; man kann von einem ausgeprägt autochthonen Wirtschaftsraum Saar-Lor-Lux in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ausgehen.43 Im Übrigen blieben auch die Wirtschaftskontakte über die deutsch-französische Grenze hinweg erhalten, selbst wenn die direkte wirtschaftliche Kooperation nach 1871 erschwert wurde. Für die Bevölkerung stellte die neue deutsch-französische Grenze im Übrigen auch kein Hindernis dar, weil sie eine offene Grenze war. Passpflicht existierte nur in den angespannten Jahren der durch General Georges Ernest Boulanger (1837–1891)[] ausgelösten diplomatischen Krise von 1887–1889.44
Allerdings waren die Widerstände gegen die Annexion in der einheimischen Bevölkerung im Gegensatz zu 1814/1815 deutlich ausgeprägter. Die Eingliederung ins Deutsche Reich wurde von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Trotz dieser generellen Feststellung gab es doch erhebliche Unterschiede zwischen Lothringen, dem Ober- und dem Unterelsass, zwischen Stadt und Land und zwischen katholischen und protestantischen Bevölkerungsteilen. Der Protest gegen die Annexion war in Lothringen am stärksten und in der protestantischen Landbevölkerung des Unterelsass am geringsten.45 In Lothringen kam es zu einer erheblichen Emigration insbesondere von Angehörigen des Handels- und Besitzbürgertums.46 Zudem kam es vor Ort zu einer Spaltung zwischen den Einheimischen und den neu hinzukommenden Altdeutschen, die besonders in Verwaltung und Militär tätig waren. In Metz stieg der Anteil der altdeutschen Bevölkerung von 1875 bis 1890 um 15 Prozent auf einen Anteil von fast der Hälfte der städtischen Zivilbevölkerung.47 Dort bildeten sich zudem zwei separate jüdische Kultusgemeinden.48
Die Fundamentalopposition breiter Bevölkerungsteile gegen die Eingliederung in das Deutsche Reich ging erst seit den 1890er Jahren deutlich zurück. Nach der kurzzeitigen Verschärfung der französisch-deutschen Spannungen aufgrund der Politik und Ambitionen des französischen Generals Boulanger, bei der die Hoffnungen auf eine Rückkehr zu Frankreich zum letzten Mal aufgekommen waren, stellte sich Ernüchterung ein. Seit diesem Zeitpunkt kam es zu einer zunehmenden Anpassung an die Entwicklungen im Deutschen Reich, was sich unter anderem bei den Reichstagswahlen zeigte, bei denen sich erstmals deutschfreundliche Kandidaten im Reichsland Elsass-Lothringen durchsetzen konnten. Neben der Desillusionierung über den Ausgang der Boulanger-Krise spielten dabei die Maßnahmen der Reichsführung in Elsass-Lothringen eine Rolle. Bisher geltende Ausnahmeregeln und Sondergesetze, die den Verlust der traditionellen Bindung an Frankreich kompensieren sollten, wurden aufgehoben, die Beziehungen zu Frankreich, u.a. durch Visumzwang für nach Frankreich einreisende Ausländer, wurden erschwert und deutsche Gesetze und Verordnungen wie die deutsche Gewerbeordnung sowie die Arbeiterversicherungsgesetze, gegen die sich elsässisch-lothringische Notabeln und Fabrikanten lange gewehrt hatten, eingeführt. Schließlich endete in Deutschland der Kulturkampf, der den katholischen Klerus im Reichsland Elsass-Lothringen stark vom Reich entfremdet hatte, und die Reichsführung ging nun stärker auf den katholischen Bevölkerungsteil zu. Hinzu kam, dass die Dreyfus-Affäre und die laizistischen Gesetze in Frankreich die Katholiken zusätzlich von Frankreich entfernten. Auch der Generationenwechsel beförderte die Integration. 1890 war die erste Generation wahlberechtigt, die durch das deutsche Schulsystem gegangen und die weitgehend unbeeinflusst von der französischen Vergangenheit ihrer Väter war.49 Unterstützt wurde diese Entwicklung auch von der vorsichtig integrativen, modernen Schulpolitik in Elsass-Lothringen seit 1871, die jetzt sichtbare Früchte trug. Das führte dazu, dass der Widerwille gegenüber den deutschen höheren Schulen deutlich nachließ. Auch die meist aus dem Reichsland stammenden Volksschullehrer entwickelten sich von profranzösisch zu deutschliberal denkenden Lehrern.50
Zudem sollte die Bevölkerung durch eine Förderung des annektierten Reichslandes versöhnlich gestimmt werden. Zwar war der Grad der Autonomie in Elsass-Lothringen geringer als in jedem anderen Bundesstaat,51 am Ende des Jahrhunderts wurden aber erhebliche Verbesserungen gerade in Bezug auf die Selbstverwaltungsrechte der großen Städte vorgenommen.52 Davon profitierte insbesondere Straßburg, das als Hauptstadt des Reichslandes Elsass-Lothringen zudem ein politisches, administratives und wirtschaftliches Zentrum geworden war.53
Zur Verbreitung der deutschen Kultur wurde am 1. Mai 1872 auch die seit 1621 bestehende Straßburger Universität noch einmal neu gegründet. Sie sollte den Integrationsprozess unterstützen und auch nach Frankreich hinein ausstrahlen. Der von 1872 bis 1882 amtierende Rektor der Straßburger Universität, Gustav Schmoller (1838–1917), drückte das aus Anlass der Fünfundzwanzigjahrfeier 1897 unmissverständlich aus. Er bezeichnete die Straßburger Universität als Paradebeispiel bewährter preußischer Hochschulpolitik, der es darum ging, "in neu gewonnenen Provinzen durch Neugründung oder verbesserte Pflege von Universitäten zugleich auf die Assimilierung der Landschaft mit dem Staatsganzen und auf eine Hebung des wissenschaftlichen Geistes, auf bessere Ausbildung der geistlichen Lehrer, Ärzte, Beamten hinzuwirken."54
Aus diesem Grunde wurde sie mit außerordentlichen materiellen und personellen Mitteln ausgestattet, welche die anderen deutschen Universitäten bei weitem in den Schatten stellte. So wurde "das Beste an Gelehrten und Lehrern, was die damalige Generation in allen deutschredenden Ländern aufzuweisen hatte",55 für Straßburg gewonnen. Es handelte sich um auffallend junge Professoren, die sehr leistungsbereit und auch national denkend waren. Allerdings wurden nicht alle Professoren neu berufen. Von den elsässischen Dozenten der aufgelösten Académie wurden zwölf in den neuen Lehrkörper integriert, darunter auch der erste Rektor der Reichsuniversität, der germanophile evangelische Theologe Johann Friedrich Bruch (1792–1874). Er sollte sozusagen die Verbindung von alter und neuer Zeit ausdrücken.56 Die Straßburger Universität wurde dann tatsächlich zur Reformuniversität, die bald den Beinamen Arbeitsuniversität erhielt. Seminare wurden gegenüber den Vorlesungen aufgewertet, was bald eine große Anziehungskraft auch auf die Studierenden hatte. Die anderen deutschen Universitäten eiferten diesem neuen Modell rasch nach. Um Akzeptanz in der einheimischen Bevölkerung zu erlangen und die Assimilation zu erleichtern, wurde an der Reichsuniversität zudem das Studium der elsässischen Geschichte und Literatur sowie des elsässischen Dialekts gefördert.57
Ohne sich als Deutsche zu fühlen, akzeptierten Elsässer und Lothringer immer mehr die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich. Zugleich entwickelten sie ein starkes Regionalbewusstsein und ein deutliches Streben nach Autonomie.58 Ein Hinweis auf die zunehmende Angleichung an reichsdeutsche Entwicklungen stellt die Herausbildung eines politischen Parteienwesens in Elsass-Lothringen dar, das bis dahin nicht vorhanden gewesen war.59 Die vorsichtige Integrationspolitik in Elsass-Lothringen, die sich durch die nationale Achtung auszeichnete, welche man den annektierten Bürgern entgegenbrachte, zeitigte daher deutlich positive Ergebnisse. Allerdings wurden diese Erfolge während des Ersten Weltkriegs durch die von der deutschen Verwaltung kompromisslos betriebene Germanisierung wieder zunichte gemacht.60
Der Sonderstatus der deutsch-französischen Grenzregion seit Ende des Ersten Weltkriegs
Nach 1918/1919 strebte Frankreich eine territoriale Ausweitung in Richtung Rhein an, konnte in den Friedensverhandlungen aber Gebietsansprüche über Elsass-Lothringen hinaus nicht durchsetzen.61 Es kam lediglich zu einer befristeten Besetzung des Rheinlands, in dem dann aber eine intensive profranzösische Propaganda betrieben wurde, mit der die für Paris negativen Ergebnisse des Versailler Vertrages ausgehebelt werden sollten.62 Die größte Chance hatten die französischen Ambitionen im Saarland, da das für 1935 anberaumte Plebiszit zur Staatszugehörigkeit theoretisch auch in Richtung Frankreich ausschlagen konnte.63 Allerdings wurde die Präsenz französischer Truppen im Saarland von der breiten Bevölkerung und allen deutschen Parteien abgelehnt, so dass die Liberale Volkspartei, die Kommunistische Partei, die Vereinigte Sozialdemokratische Partei, das Zentrum und die Deutsche Demokratische Partei im Dezember 1922 ein Protestmemorandum gegen die französische Besatzung an den Völkerbund sandten.64
Tatsächlich machten die französischen Truppen bei ihrem Einmarsch ins Saarland 1918 deutlich, dass sie sich in Feindesland wähnten. Frankreich strebte bei den Verhandlungen in Versailles aber von Beginn an den Besitz des Saarlandes an, und der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau (1841–1929) verbreitete die Legende eines Gesuches von 150.000 Saarfranzosen, die angeblich um Eingliederung ihrer Region ins französische Staatsgebiet gebeten hätten.65 Die Besatzungstruppen wurden deshalb angewiesen, zwischen Saarländern und Preußen zu unterscheiden und eine pénétration pacifique bei der saarländischen Bevölkerung zu starten. Das löste allerdings keine positive Reaktion bei der Bevölkerung aus, vielmehr stärkte diese antipreußische Kampagne der Franzosen die Identifikation mit dem Deutschen Reich.66 Mehrere Streikwellen gegen die französischen Besatzer folgten: zuerst Ende 1920, als die Lebenssituation der Saarländer sich durch die Blockade Deutschlands verschlechterte, dann beim Übergang der Saarbergwerke unter französische Oberhoheit und schließlich beim Bergarbeiterstreik 1923.67 Die Grenze zwischen Lothringen und dem Saarland, die seit 1920 offen war und von den Franzosen bewusst als solche unkenntlich gemacht wurde, blieb im Bewusstsein der Saarländer präsent, was zahlreiche Zusammenstöße zwischen Saarländern und Franzosen unterstreichen.68 Die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Lothringen und dem Saarland bestanden zwar fort, allerdings zum deutlichen Nachteil für die saarländischen Unternehmer. Da die meisten lothringischen Industriellen zudem auf Kohle angewiesen blieben, rissen auch die Verbindungen zu den deutschen Bergwerken in Rhein und Ruhr in der Zwischenkriegszeit nicht ab. Die deutschen Stahlproduzenten mussten allerdings die benötigten Erze jetzt aus Schweden und Spanien einführen.69
Bei der Saarabstimmung am 13. Januar 1935 entschieden sich 90,8 Prozent der stimmberechtigten Saarländer für die Wiederangliederung des Saarlandes an Hitlerdeutschland, wobei die NSDAP mit der Deutschen Front seit 1933 ein dichtes Organisationsnetz im Saarland aufgebaut hatte.70 Nach dem Anschluss an das Reich wurde das Saarland weitgehend von Frankreich abgeschlossen. Die Grenze zwischen Elsass/Lothringen und dem Saarland wurde zudem durch den zur Verteidigung Frankreichs gedachten Bau der aus einer Reihe von Bunkern bestehenden Maginot-Linie ab 1930 und des Westwalls ab 1938 militärisch aufgerüstet und verriegelt.71
Die Franzosen wurden aber nicht nur im linksrheinischen Raum enttäuscht, auch in Lothringen und vor allem im Elsass machte die anfängliche Begeisterung über die Wiederangliederung an Frankreich rasch der Ernüchterung Platz. Während der fast fünfzigjährigen Trennung war es zu unterschiedlichen politischen, kulturellen und ideologischen Entwicklungen gekommen. Eine Stadt wie Metz litt nach 1918 darunter, dass sich inzwischen Nancy im wirtschaftlichen und politischen Machtgefüge in Lothringen die entscheidende Rolle erkämpft hatte. Politische Initiativen, die eine Eingliederung des ehemaligen Reichslandes durch Rechtsvereinheitlichung beschleunigen wollten, trafen im Elsass und dem Département Moselle auf Widerstand. Das zeigte sich beim Kampf für die Beibehaltung der städtischen Selbstverwaltung und der Gemeindeordnung von 1895.72 Auch der Versuch der französischen Regierung des Linkskartells von Edouard Herriot (1872–1957) im Jahr 1924, in den wieder angeschlossenen Regionen das spezielle Kirchen- und Schulstatut aufzuheben, löste heftige Proteste aus. Frankreich ließ zwar relativ bald von diesem Vorhaben ab, es entwickelte sich aber daraufhin eine Autonomiebewegung im ehemaligen Reichsland. Am 8. Juni 1926 verlangte das Manifest des Heimatbundes die umfassendste Autonomie, um die Rechte der elsässisch-lothringischen Bevölkerung zu schützen. Zur Autonomiebewegung im Elsass zählte auch eine kleine germanophile Gruppe, welche die Autonomie nur als ersten Schritt auf dem Weg zurück zu Deutschland betrachtete. Sie fand Anhänger vor allem im lutherischen Milieu im Norden des Elsass und war später auch empfänglich für die Blut-und-Boden-Propaganda der Nationalsozialisten.73
Allerdings enttäuschte Adolf Hitler (1889–1945) die Autonomiebestrebungen der Elsass/Lothringer nach der Annexion und de facto Eingliederung in das Deutsche Reich.74 Hitler wollte jeglichen Partikularismus beseitigen und betrachtete die elsässische Autonomiebewegung als ein zu zerschlagendes Hindernis.75 Die nationalsozialistische Unterdrückung erstickte wie schon im ersten Weltkrieg alle deutschfreundlichen Regungen in der elsässischen und lothringischen Bevölkerung und führte zum Aufkeimen einer immer entschlosseneren Feindschaft.76 Tatsächlich strebten die Nationalsozialisten danach, alle Reste französischer Kultur radikal zu beseitigen.77 Straßburg, als Hauptstadt des Gaus Oberrhein, sollte erneut als kulturelle Metropole Deutschlands ausgebaut werden. Die deutschen Behörden scheuten keine Mühen, um die Überlegenheit der deutschen Kultur herauszustreichen und auch die einheimische Bevölkerung damit für das Deutsche Reich zu gewinnen.
Wie bereits nach 1871 sollte die Straßburger Universität zur Modelluniversität und "Hochburg deutschen Geisteslebens gegen den romanischen Westen"78 ausgebaut werden, diesmal aber unter Ägide der NSDAP und der SS. Gründungsrektor wurde der in Straßburg geborene Ernst Anrich (1906–2001), der Sohn des letzten Rektors der Kaiser-Wilhelm-Universität während des Ersten Weltkriegs. Anrich war sowohl Nationalsozialist als auch im Bereich der von 1918 bis 1945 an deutschen Universitäten betriebenen Westforschung engagiert und hatte in verschiedenen Publikationen das französische Hegemoniestreben kritisiert. Allerdings war das Projekt der "nationalsozialistischen Kampfuniversität" nicht erfolgreich und konnte nur minimale Studentenzahlen erreichen.79 Erfolgreicher war da die nationalsozialistische Kulturpolitik in Straßburg, die direkt der Gauleitung, und zwar dem Kulturreferenten der Abteilung Volksaufklärung und Propaganda unterstellt war und insbesondere Musik und Theater förderte. Das Straßburger Theater sollte den Rang von Berlin und Wien erhalten. Es wurde 1941 in ein Staatstheater umgewandelt und aufwendig modernisiert. Als Generalintendant wurde aus Berlin Ingolf Kuntze (1890–1952) berufen, für das reorganisierte und vergrößerte Orchester wurde Hans Rosbaud (1895–1962) als Generalmusikdirektor verpflichtet. Die Gagen in Straßburg lagen deutlich über denen der meisten deutschen Theater auf der Höhe der Gagensätze in Berlin und Wien. Franzosen wurden aus dem Ensemble entlassen, das vor allem aus Deutschen und einigen Elsässern bestand. Wurde zu Beginn vor allem ein deutsches Publikum angesprochen, so stieg das Interesse der Elsässer am Theater in der Folge sehr schnell. Der Theaterspielplan wurde regermanisiert, wobei besonders die klassischen deutschen Dramen und deutsche Opern bevorzugt wurden.80
Zwar gelang es auf diese Weise, das Straßburger Theater rasch auf einen Spitzenplatz in der deutschen Theaterwelt zu heben, das konnte aber nicht von der Deportation zahlreicher jüdischer Bürger sowie den politischen und gesellschaftlichen Zumutungen, die die Annexion durch die Hitler-Diktatur mit sich brachte, ablenken.81 So wiesen die Nationalsozialisten sogenannte "nichtassimilierbare" Bevölkerungsteile aus dem Elsass und Lothringen nach Südwestfrankreich oder Polen aus und siedelten Volksdeutsche in Lothringen an.82 Auch landwirtschaftliche Großbetriebe wurden dort unter deutscher Leitung errichtet.83
Die zeitweise oder intensive Zusammenarbeit von Führern der elsässisch-lothringischen Autonomiebewegung mit den Nationalsozialisten hat dazu geführt, dass die Idee der Autonomie nach 1945 kompromittiert war; es blieb lediglich ein unpolitischer Regionalismus erhalten.84 Das hat die Integration des Elsass und des ehemals deutschen Lothringen in den französischen Staat erleichtert. Die positive Wirtschaftsentwicklung sowie die Einbindung in die politische Entwicklung in Frankreich haben diese Integration zusätzlich gefördert. Die katholische Partei des Elsass, die Union populaire républicaine (UPR), schloss sich der MRP (Mouvement républicain populaire) an, und auch der Gaullismus spielte in dieser Hinsicht im ehemaligen Reichsland Elsass-Lothringen eine wichtige Rolle. Charles de Gaulle verkündete 1947 vom Balkon des Straßburger Rathauses die Gründung seines Rassemblement du peuple français (RPF), und in der Fünften Republik waren das Elsass und auch Lothringen lange Jahre eine Bastion der Gaullisten.85
Im Saargebiet konnten sich nach 1945 die französischen Rheinpläne auf eine Gruppe von Exilsaarländern stützen, die im Frühjahr 1945 in Paris das Mouvement pour la Liberation de la Sarre (MLS) gegründet hatte und die nach der Befreiung recht schnell ins Saargebiet zurückkehrte. 1946 wurde diese überparteiliche Bewegung in Mouvement pour le Rattachement de la Sarre à la France (MRS) umbenannt. Die französische Regierung ging aber vor allem den Weg der wirtschaftlichen Angliederung: die Saargruben wurden unter französische Verwaltung gestellt, die Zollgrenze an die Ostgrenze des Saargebiets vorgeschoben und die französische Währung eingeführt. Mit dem Verzicht auf Demontagen und Reparationsleistungen konnten saarländische Politiker zur Zusammenarbeit mit den französischen Besatzern bewegt werden. Der MRS sah die wirtschaftliche Angliederung aber nur als ersten Schritt auf dem Weg zum kompletten Anschluss an Frankreich. Der französische Militärgouverneur musste den MRS wiederholt zurechtweisen, nutzte die Organisation aber auch für seine Ziele. Mitglieder der MRS wurden dann in den neu gegründeten Parteien, besonders der Christlichen Volkspartei (CVP) aktiv. Der Weg ging aber nicht in Richtung der kompletten Angliederung, sondern der politischen Autonomie bei Beibehaltung der Wirtschaftsunion mit Frankreich. Die ab 1947 geschaffene Regierung des Saarlandes bestand in der Mehrzahl aus Exilsaarländern. 1950 wurde das Saarland assoziiertes Mitglied des Europarats, 1951 gehörte es auch der Montanunion an. Allerdings weigerten sich die übrigen Alliierten, einem endgültigen autonomistischen Saarstatut noch vor Abschluss eines Friedensvertrages zuzustimmen. Der Deutsche Bundestag wiederum bezeichnete das Saargebiet am 2. Juli 1953 als einen Teil Deutschlands und forderte das Selbstbestimmungsrecht der Saarländer.86 Eine Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich zeichnete sich erst im Rahmen der bundesdeutschen Versuche zur Normalisierung der internationalen Beziehungen ab, die zuerst über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und dann die Westeuropäische Union verfolgt wurden. In diesem Zusammenhang wurde am 23. Oktober 1954 ein Saarstatut vereinbart, das eine Europäisierung der Saar im Rahmen der WEU vorsah. Allerdings wurde das von Frankreich und der Bundesrepublik vereinbarte europäische Saarstatut in der Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955 abgelehnt. Damit waren die französische Saarpolitik und der Versuch der definitiven Abspaltung von Deutschland gescheitert. Führende Politiker der bisherigen saarländischen Regierung verließen daraufhin das Saarland in Richtung Frankreich. Das Verhältnis Frankreichs zur Bundesrepublik, die das Saarstatut befürwortet hatte, wurde durch die Volksabstimmung nicht beeinträchtigt. Schon ein Jahr später wurde ein Vertrag geschlossen, der die Angliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik regelte.87
Der deutsch-französische Grenzraum als Modellregion der deutsch-französischen und europäischen Annäherung
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der deutsch-französische Grenzraum mit dem Rheinland, Lothringen und dem Elsass zu einem Verbindungsglied zwischen Frankreich, Deutschland und Europa. Die Saarbrücker Universität setzte nach 1956 mit Erfolg weiter auf eine europäische Orientierung. Dazu wurden französische Instrumente übernommen und weiterentwickelt, so etwa das 1951 gegründete Europa-Institut. Die Zusammenarbeit mit französischen Partnern in Paris, Nancy, Strasbourg und Metz wurde weiterentwickelt und ausgebaut.88
Die französischen Handelskammern im Elsass und im Departement Moselle traten bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit erfolgreich für eine Wiederaufnahme und Intensivierung wirtschaftlicher Beziehungen ein, wobei auch die lange Tradition der grenzüberschreitenden Kontakte eine Rolle spielte. Lediglich in den 1950er Jahren war der internationale Austausch aufgrund der besseren Konkurrenzfähigkeit der deutschen Unternehmen etwas beeinträchtigt.89
Angesichts der Krise der Montanindustrie seit Beginn der 1960er Jahre wurde dann aber eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem Saarland, Lothringen und auch Luxemburg von regionalen Wirtschaftsakteuren angeregt. Gemeinsam sollte eine verbesserte Infrastruktur geschaffen werden, um die Wettbewerbsfähigkeit in den Regionen zu erhöhen. Diese Initiative mündete 1971 in die Schaffung der Regionalkommission Saarland–Lothringen–Luxemburg–Rheinland/Pfalz, die der 1970 gegründeten Deutsch-Französisch-Luxemburgischen Regierungskommission untergeordnet wurde.90 Das war die Geburtsstunde der gleichnamigen Großregion, die in der Folge zahlreiche gemeinsame Initiativen angeregt und weitere Institutionen und Organisationen hervorgebracht hat. 1995 wurde der kommunale Spitzenverband der Großregion "EuRegio SaarLorLuxRhein", als gemeinnütziger Verein gegründet. Ziel war und ist es, politische, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Kontakte zu knüpfen und zu vertiefen.91 Die wirtschaftlich inspirierte und politisch geförderte Zusammenarbeit führte zu einer zunehmenden Verknüpfung der Regionen. Die Zahl der im Saarland arbeitenden Lothringer wuchs, deutsche Tochtergesellschaften siedelten sich im Gegenzug in Lothringen an, der Grenztourismus vor allem nach Lothringen nahm zu und viele Saarländer ließen sich in Lothringen nieder.92
Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass die erneut auf der Ebene der wirtschaftlichen und politischen Eliten ausgehandelte neue Stellung der Region nur allmählich auch in der regionalen Bevölkerung akzeptiert und als Möglichkeit der Identifikation aufgegriffen wird. Gerade in den krisengeschüttelten 1970er und 1980er Jahren war auf französischer Seite eher das Bild einer schleichenden deutschen Expansion dominant, und es wurden auch deutschfeindliche Ressentiments wiederbelebt.93 Die meisten Beziehungen zwischen dem Saarland und Lothringen sind wirtschaftlich motiviert. Von einer Herausbildung gemeinsamer Werte sowie Lebens- und Handlungsformen kann kaum gesprochen werden, was auch an den zurückgehenden Sprachkenntnissen auf beiden Seiten, dem Niedergang des Französischen als erster Fremdsprache im Saarland und des lothringischen Dialekts bei französischen Grundschülern, liegt.94
Das Elsass hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ebenfalls am Aufbau einer grenzüberschreitenden Region beteiligt, der Region Oberrhein, zu der noch die Länder Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und mehrere Schweizer Kantone gehören. Die Chronologie ist dabei ähnlich wie im Fall der Großregion Saar-Lor-Lux-Rhein: Seit den 1960er Jahren entwickelten sich erste Kontakte auf Vereinsbasis, 1975 wurden eine Regierungskommission und ein deutsch-französisch-schweizerischer Regionalausschuss gebildet.95 In der Folge kam es zu sehr viel engeren Verflechtungen über die Grenzen hinweg, die ein System gegensätzlicher Abhängigkeiten hervorgebracht haben. Es existieren zwar weiterhin unterschiedliche regionale Identitäten, die durch die sich weiter ausprägende sprachliche Grenze (aufgrund des zurückgehenden Gebrauchs des Elsässischen) gestützt werden.96 Trotzdem sind die Verknüpfungen innerhalb der Grenzregion unübersehbar.
Zentrale Pole der grenzüberschreitenden Verflechtung sind die Metropolen, in Frankreich vor allem Strasbourg, das seit 1952 zudem Sitz des europäischen Parlaments und seit 2005 Zentrum des ersten Eurodistrikts Strasbourg-Ortenau ist,97 mit dem "eine transnationale regionale Identität im Herzen eines bürgernahen Europas" begründet werden soll.98 In Deutschland spielen Saarbrücken und (in der Region Oberrhein) Karlsruhe eine ähnliche Rolle.
Die deutsch-französischen Grenzregionen nutzten auf diese Weise die unterschiedlichen Traditionen der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Verflechtung, um den Prozess der deutsch-französischen im Rahmen der europäischen Annäherung zu stärken und voranzutreiben. Sie hatten daran auch ein Eigeninteresse, da auf diese Weise die Randstellung innerhalb der jeweiligen Nation aufgebrochen und wirtschaftliche Prosperität gefördert wurde.
Fazit
Der deutsch-französische Grenzraum ist eine Kontaktzone. Das eröffnet den darin wohnenden Menschen wirtschaftliche und kulturelle Möglichkeiten, barg in der Vergangenheit aber auch Risiken im Falle von Konflikten. Im nationalistisch geprägten 19. und 20. Jahrhundert kamen dazu die Zumutungen, die durch die wechselseitigen Integrations- und Assimilierungsversuche der Nationalstaaten Frankreich und Deutschland unternommen wurden. Zudem wurden die Teile des Grenzraumes, die annektiert, befreit, wiederangeschlossen oder zurückerobert worden waren, häufig einem Sonderstatus unterworfen. Sie gehörten zwar de facto zu Frankreich oder Deutschland, es bestanden aber weiterhin Sondergesetze, mitunter eine gewisse Abschirmung, besonders wirtschaftlicher Art, vom übrigen Land. Darin drückte sich einerseits das Misstrauen gegenüber den Neubürgern aus, andererseits sollte die Wirtschaft im Inland geschützt werden. Zudem wurden Grenzregionen von den politischen Akteuren auch immer als Pufferzonen betrachtet. Nach den beiden Weltkriegen ist diese Funktion der Pufferzone unter supranationaler Aufsicht perfektioniert worden. Es ist deshalb kein Zufall, dass sich in den umstrittenen Grenzgebieten regionalistische Identifikationsmuster, die bis zu Autonomiebewegungen reichen konnten, ausprägten und eine Sonderstellung dieser Regionen innerhalb des Nationalstaats lange erhalten blieb.99
Der Prozess der europäischen Einigung hat erneut das positive Potential des deutsch-französischen Grenzraums stimuliert, indem die Grenzregionen als Zonen der Begegnung, des Austausches und der Öffnung gestärkt wurden. Davon hat in erster Linie die Wirtschaft und Infrastruktur im deutsch-französischen Grenzraum profitiert, während der Abbau von Ressentiments und die Identifikation an einer grenzübergreifenden Region oder gar einem vereinten Europa langsamer vor sich geht. Die sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts verfestigende, nationalstaatlich definierte Grenze hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert tief in das Bewusstsein der Bewohner der Grenzregionen eingebrannt. Selbst wenn der deutsch-französische Grenzraum heute ein Ort des Austauschs und der Begegnung ist, haben seine Bewohner doch das Konzept der Nation, allen Beschwörungen vom Ende des Nationalstaats zum Trotz, stark verinnerlicht.
Anhang
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Stein, Wolfgang Hans: Sprachtransfer durch Verwaltungshandeln: Französisch als Sprache der Verwaltungsöffentlichkeit in den rheinischen Departements 1798–1814, in: Hans-Jürgen Lüsebrink u.a. (Hg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch: Frankreich–Deutschland 1770 bis 1815, Leipzig 1997, vol. 1, S. 259–305.
Struck, Bernhard: Vom offenen Raum zum nationalen Territorium: Wahrnehmung, Erfindung und Historizität von Grenzen in der deutschen Reiseliteratur über Polen und Frankreich um 1800, in: Etienne François u.a. (Hg.): Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion: Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main u.a. 2007, S. 77–104.
Suratteau, Jean René: Le double langage de la France révolutionnaire en Rhénanie, in: Peter Hüttenberger u.a. (Hg.): Franzosen und Deutsche am Rhein: 1789–1918–1945, Essen 1989, S. 11–25.
Ulbrich, Claudia: Rheingrenze, Revolten und Französische Revolution, in: Volker Rödel (Hg.): Die Französische Revolution und die Oberrheinlande (1789–1798), Sigmaringen 1991, S. 223–244.
Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, München 1987, vol. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen "Deutschen Doppelrevolution" 1815–1845/49.
Wein, Franziska: Deutschlands Strom – Frankreichs Grenze: Geschichte und Propaganda am Rhein 1919–1930, Essen 1992.
Wittenbrock, Rolf: Die Auswirkungen von Grenzverschiebungen auf Stadtentwicklung und Kommunalverfassung: Metz und Straßburg (1850–1930), in: Wolfgang Haubrichs u.a. (Hg.): Grenzen und Grenzregionen, Saarbrücken 1994, S. 239–265.
Wittenbrock, Rolf: Les débuts de la coopération transfrontalière dans la Grande Région Saar-Lor-Lux (1962–1981), in: Birte Wassenberg (Hg.): Vivre et penser la coopération transfrontalière, Stuttgart 2010, vol 1: les régions frontalières françaises, S. 117–133.
Wittenbrock, Rolf: Identitätsbildung in einer Grenzregion: Das Saarland bis 1935, in: Richard van Dülmen u.a. (Hg.): Saarländische Geschichte: eine Anthologie, St. Ingbert 1995, S. 284–288.
Wolfanger, Dieter: Die nationalsozialistische Politik in Lothringen (1940–1945), Dissertation Saarbrücken 1977.
Anmerkungen
- ^ Zum Konzept der "Mental Maps" vgl. das von Christoph Conrad herausgegebene gleichnamige Themenheft von Geschichte und Gesellschaft 28/2002/3.
- ^ Zu Kulturverflechtung und Akkulturation vgl. Bitterli, Die "Wilden" und die "Zivilisierten" 1991, S.161–173.
- ^ Zur Entwicklung der deutsch-französischen Grenzregion im Mittelalter und der frühen Neuzeit vgl. Mieck, Der deutsch-französische Grenzraum 2003, S. 1–26.
- ^ Struck, Vom offenen Raum zum nationalen Territorium 2007, S. 86–95.
- ^ Vgl. Ulbrich, Rheingrenze, Revolten und Französische Revolution 1991, S. 241–244; Dumont, Befreiung oder Fremdherrschaft? 1989, S. 96–100.
- ^ Reichardt, Das Blut der Freiheit 1998, S. 262.
- ^ Nordmann, Des limites d'État aux frontières nationales 1986, S. 35–61.
- ^ Jardin / Tudesq, La France des notables 1973, S. 184–189; Ilić, Frankreich und Deutschland 2004, S. 48.
- ^ Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1987, vol. 2, S. 399.
- ^ Vgl. Schultz, Deutschlands "natürliche" Grenzen 1990, S. 33–88; Schröder, Die Nation an der Grenze 2002, S. 207–234; Schultz, Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie 2002, S. 343–377, besonders S. 361. Auch in Frankreich unterlagen im Übrigen die "natürlichen Grenzen" einem Prozess der Veränderung. Vgl. Denni, Rheinüberschreitungen – Grenzüberschreitungen 2008, S. 37.
- ^ Nordmann, Des limites d'État aux frontières nationales 1986, S. 47–49; Mieck, Der deutsch-französische Grenzraum 2003, S. 12.
- ^ Schöttler, Die historische "Westforschung" 1997, S. 204–261.
- ^ Mayeur, Une mémoire-frontière 1986, S. 74; vgl. Schönpflug, Politische Einheit und kulturelle Vielfalt 2003, S. 68–98.
- ^ So in den Verhandlungen des französischen Außenministers Armand Marc de Montmorin Saint-Hérem (1745–1792) mit dem preußischen Sondergesandten Benjamin Veitel Ephraim (1742–1811) am 10. Dezember 1790 (vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 11, Frankreich, Nr. 89, Fasc. 287). Im unmittelbaren Vorfeld des 1. Koalitionskrieges versuchte der französische Außenminister Charles-François du Périer Dumouriez (1739–1823) Preußen u.a. mit Entschädigungen für die deutschen Fürsten mit Besitzungen im Elsaß zu besänftigen (GStA PK, I. HA, Rep. 11, Frankreich, Nr. 89, Fasc. 298).
- ^ Suratteau, Le double langage de la France révolutionnaire en Rhénanie 1989, S. 21.
- ^ Dumont, Befreiung oder Fremdherrschaft? 1989, S. 104.
- ^ Mieck, Der deutsche französische Grenzraum 2003, S. 12f.
- ^ Mieck, Der deutsche französische Grenzraum 2003, S. 14.
- ^ Schlesier, Vereinendes und Trennendes 2007, S. 143–147.
- ^ Roth, La frontière franco-allemande 1871–1918 1994, S. 131–133, 141.
- ^ Schlesier, Vereinendes und Trennendes 2007, S. 148f.
- ^ Roth, Lothringen als Teil der französischen Nation (1789–1870) 1984, S. 409f.
- ^ Mayeur, Une mémoire-frontière 1986, S. 86–90.
- ^ Wein, Deutschlands Strom – Frankreichs Grenze 1992, S. 25f.
- ^ Wein, Deutschlands Strom – Frankreichs Grenze 1992, S. 25f.
- ^ Wein, Deutschlands Strom – Frankreichs Grenze 1992, S. 30f.
- ^ Köhler, Adenauer und die rheinische Republik 1986, besonders S. 196–217.
- ^ Mayeur, Une mémoire-frontière 1986, S. 85.
- ^ Pressekonferenz von Charles de Gaulle, 25. Januar 1945, abgedruckt in: L'année politique 1944–1945 1946, S. 101.
- ^ Vgl. Hudemann, Die Saar zwischen Deutschland und Frankreich 1945–1947 1992, S. 13–34, hier S. 23.
- ^ Hudemann, Die Saar zwischen Deutschland und Frankreich 1945–1947 1992, S. 25–27. Weniger nuanciert stellt Reinhard Schreiner de Gaulles Position dar: Schreiner, Bidault, der MRP und die französische Deutschlandpolitik 1944–1948 1985, S. 23–40.
- ^ Schneider, Rückkehr an die Saar 1995, S. 320–325, hier S. 320.
- ^ Dumont, Befreiung oder Fremdherrschaft? 1989, S. 104–109.
- ^ Pabst, Bildungs- und Kulturpolitik der Franzosen im Rheinland zwischen 1794 und 1814 1989, S. 191–194.
- ^ Pabst, Bildungs- und Kulturpolitik der Franzosen im Rheinland zwischen 1794 und 1814 1989, S. 195–199.
- ^ Pabst, Bildungs- und Kulturpolitik der Franzosen im Rheinland zwischen 1794 und 1814 1989, S. 200f.; Faber, Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution 1966, S. 15.
- ^ Kramer, Zur französischen Sprachpolitik im Rheinland 1794–1814 1990, S. 89–102.
- ^ Stein, Sprachtransfer durch Verwaltungshandeln, vol. 1, 1997, S. 259–305.
- ^ Mayeur, Une mémoire-frontière 1986, S. 74; Mieck, Der deutsche französische Grenzraum 2003, S. 18.
- ^ Stein, Revolutionskalender, Decadi und Justiz im annektierten Rheinland 2000, S. 139–175.
- ^ Dufraisse, De quelques conséquences économiques et sociales 1989, besonders S. 157–160.
- ^ Schlesier, Vereinendes und Trennendes 2007, S. 136–142.
- ^ Leiner, Wanderungsbewegungen im saarländisch-lothringisch-luxemburgischen Grenzraum 1856–1914 1998, S. 55f.
- ^ Roth, La frontière franco-allemande 1871–1918 1994, S. 135–140.
- ^ Hiery, Wahlen und Wahlverhalten im Reichsland Elsaß-Lothringen 1998, S. 71.
- ^ Schlesier, Vereinendes und Trennendes 2007, S. 149.
- ^ Maas, Kriegerdenkmäler einer Grenzregion 1998, S. 285–299, hier S. 290; Wittenbrock, Die Auswirkungen von Grenzverschiebungen 1994, S. 245–248.
- ^ Lang / Rosenfeld, Histoire des juifs en Moselle, Metz 2001, S. 138f.
- ^ Hiery, Wahlen und Wahlverhalten im Reichsland Elsaß-Lothringen 1998, S. 83f.
- ^ Aretin, Erziehung zum Hurrapatrioten? 1998, S. 102f.
- ^ Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, vol. 4, 1982, S. 230–351.
- ^ Wittenbrock, Die Auswirkungen von Grenzverschiebungen 1994, S. 254–257.
- ^ Wittenbrock, Die Auswirkungen von Grenzverschiebungen 1994, S. 242f., 256f.
- ^ Schmoller, Die Bedeutung der Straßburger Universität 1920, S. 197.
- ^ Brentano, Elsässer Erinnerungen 1918, S. 52.
- ^ Anrich, Ehemalige Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg 1930, S. 378.
- ^ Vgl. das Kapitel "Die Universität Straßburg als ein Mittelpunkt deutschen Geisteslebens im Elsaß", in: Forster, Das elsässische Kultur-Problem 1951, S. 17–26. Zur Geschichte der Universität Straßburg vgl. auch Craig, Scholarship and Nation Building 1984.
- ^ Mayeur, Une mémoire-frontière 1986, S. 77–80.
- ^ Hiery, Wahlen und Wahlverhalten im Reichsland Elsaß-Lothringen 1998, S. 85.
- ^ Roth, Die Zeit der Weltkriege (1914–1945) 1984, S. 448.
- ^ Wein, Deutschlands Strom – Frankreichs Grenze 1992, S. 15–17.
- ^ Wein, Deutschlands Strom – Frankreichs Grenze 1992, S. 23–29, 32–34, 164–166.
- ^ Paul, Die Saarabstimmung 1935 1995, S. 301.
- ^ Beaupré, (Wieder-)Herstellen, löschen, verschieben 2007, S. 167.
- ^ Beaupré, (Wieder-)Herstellen, löschen, verschieben 2007, S. 168–170.
- ^ Wittenbrock, Identitätsbildung in einer Grenzregion 1995, S. 284–288, hier S. 286f.
- ^ Beaupré, (Wieder-)Herstellen, löschen, verschieben 2007, S. 177.
- ^ Beaupré, (Wieder-)Herstellen, löschen, verschieben 2007, S. 178–180.
- ^ Roth, Die Zeit der Weltkriege (1914–1945) 1984, S. 454f.
- ^ Paul, Die Saarabstimmung 1935, S. 300–303.
- ^ Roth, Die Zeit der Weltkriege (1914–1945) 1984, S. 465f.
- ^ Wittenbrock, Die Auswirkungen von Grenzverschiebungen 1994, S. 258–260.
- ^ Mayeur, Une mémoire-frontière 1986, S. 80–84; Roth, Die Zeit der Weltkriege, S. 463.
- ^ Tatsächlich wurde über Elsass-Lothringen im Waffenstillstandsvertrag nichts bestimmt. Die französische Seite protestierte dementsprechend auch gegen die "verschleierte Annexion" (annexion déguisée); vgl. Wolfanger, Die nationalsozialistische Politik in Lothringen (1940–1945) 1977, S. 40f.
- ^ Wolfanger, Die nationalsozialistische Politik in Lothringen (1940–1945) 1977, S. 45, 51–55, 65f.
- ^ Mayeur, Une mémoire-frontière 1986, S. 85; Roth, Die Zeit der Weltkriege (1914–1945) 1984, S. 466f; Wolfanger, Die nationalsozialistische Politik in Lothringen 1977, S. 168f; 240f.
- ^ Das begann bei der strikten Durchsetzung des Deutschen bei Vor- und Familiennamen, Straßennamen und in der Schule. Handwerker mussten Deutschkenntnisse nachweisen, wenn sie weiterarbeiten wollten, an Frankreich erinnernde Denkmale wurden beseitigt und die Baskenmütze wurde in Lothringen unterdrückt, im Elsass sogar ganz verboten. Vgl. Wolfanger, Die nationalsozialistische Politik in Lothringen 1977, S. 97–107.
- ^ Heinrich Lammers (1870–1962) an Gauleiter Robert Wagner (1895–1946), 7. Juni 1941, zitiert in: Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, vol. 2, 1992, S. 223.
- ^ Schöttler, Die historische "Westforschung" 1997, S. 213f.
- ^ Bogen, Le pari culturel nazi à Strasbourg 1990, S. 203–224.
- ^ Gegen die katholische Kirche wurde in Lothringen und massiv im Elsass vorgegangen, und die Familien von Reichsarbeitsdienstflüchtigen und Wehrmachtsdeserteuren mussten mit Repressalien rechnen. Dazu kamen umfassende Germanisierungsversuche und Ausweisungen lothringischer Bevölkerungsteile sowie die Umstellung von Franc auf Reichsmark zu einem ungünstigen Kurs. Wolfanger, Die nationalsozialistische Politik in Lothringen 1977, S. 92, 128–135, 196f., 219–221.
- ^ Schöttler, Die historische "Westforschung" 1997, S. 214f; Hudemann, Die Saar zwischen Deutschland und Frankreich 1992, S. 34; Wolfanger, Die nationalsozialistische Politik in Lothringen 1977, S. 146–195.
- ^ Mièvre, L'"Ostland" en France 1973.
- ^ Mayeur, Une mémoire-frontière 1986, S. 85.
- ^ Mayeur, Une mémoire-frontière 1986, S.92; Roth, Lothringen heute 1984, S. 490f.
- ^ Schneider, Rückkehr an die Saar 1995, S. 321–325.
- ^ Hannig, Grenzen der Politik 1995, S. 329–333.
- ^ Hübner, Kultur- und Hochschulpolitik an der Saar 1992, S. 302f.
- ^ Liberia, Les chambres de commerce françaises 2010, S. 232–236.
- ^ Wittenbrock, Les débuts de la coopération transfrontalière 2010, S. 117–133, hier S. 123f.
- ^ Gaunard, Les coopérations transfrontalières en Europe 2002, S. 355.
- ^ Brücher / Dörrenbächer, Grenzüberschreitende Beziehungen zwischen dem Saarland und Lothringen 2000, S. 17–34.
- ^ Wittenbrock, Les débuts de la coopération transfrontalière 2010, S. 128–131.
- ^ Brücher / Dörrenbächer, Grenzüberschreitende Beziehungen zwischen dem Saarland und Lothringen 2000.
- ^ Frey, Les concepts d'une gouvernance régionale transfrontalière 2010, S. 332.
- ^ Reitel, Le Rhin supérieur 2010, S. 296–305.
- ^ Denni, Rheinüberschreitungen – Grenzüberschreitungen, S. 237–276.
- ^ Eurodistrict Strasbourg-Kehl 2003.
- ^ Die administrative Gliederung der französischen Departements geht bis heute auf die durch die Annexion von 1871 geschaffenen Strukturen zurück. Vgl. Roth, La frontière franco-allemande 1871–1918 1994, S. 145.
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