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erstellt von EGO-Redaktion last modified 2022-11-21T14:26:28+01:00

Originalbeitrag

Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf den Abstieg des Lateins und den Aufstieg des Französischen als neue Lingua franca im 17. und 18. Jahrhundert innerhalb Europas. Diese sprachgeschichtliche Verortung ist sicher richtig, greift indessen linguistisch wie historisch zu kurz. Daher werden im Folgenden einige sprachliche und geschichtliche Eckdaten eingeführt, um vor deren Hintergrund die Entwicklung der lateinischen und der französischen Sprache seit der frühen Neuzeit in ihrem europäischen und deutschsprachigen Kontext zu erfassen und zu beurteilen.

Lingua franca – sprachwissenschaftliche Konzepte

Der Terminus Lingua franca (ital.: fränkische Sprache) geht auf das Mittelalter zurück. Er bezieht sich im engeren Sinne auf eine Verkehrssprache, die durch sprachlichen Kontakt im östlichen und südlichen Mittelmeer als sog. Pidgin-Sprache entstanden ist und dort als Verkehrssprache bis in das 19. Jahrhundert hinein verwendet wurde. Ihre lexikalische und grammatische Grundlage ist im Wesentlichen romanischer Abstammung und zeigt Einflüsse aus anderen Sprachen, insbesondere aus dem Arabischen. In einem weiteren, generischen Sinne wird der Terminus Lingua franca (hier auch im Plural Linguae francae oder Lingue franche) zur Bezeichnung einer Verkehrssprache im Allgemeinen verwendet, die im Falle von Kontakt verschiedener Sprachgemeinschaften in Handel und Verkehr als gemeinsame sprachliche Grundlage gebraucht wird. In einem linguistisch engeren Sinne gelten dabei eine verbreitete Akzeptanz bei Nichtmutter- bzw. Nichterstsprachlern sowie ein offizieller Status in diversen Kommunikationsbereichen in verschiedenen Ländern als weitere limitierende Faktoren für die Einordnung einer Einzelsprache als Lingua franca.

Der Begriff der Lingua franca steht in einem engen Zusammenhang mit einigen weiteren linguistischen Konzepten.1 Hierzu zählen zum einen (innere und äußere) Vielsprachigkeit als die Verwendung von mehreren Einzelsprachen oder sprachlichen Varietäten in einem bestimmten nationalen, sozialen bzw. kommunikativen Umfeld und Mehrsprachigkeit als der Gebrauch verschiedener Einzelsprachen oder sprachlicher Varietäten bei einzelnen Personen (so zum Beispiel Französisch und Lëtzebuergesch in Luxemburg). Hinzu kommen das Konzept des Pidgin bzw. der Pidgin-Sprache als der lexikalischen und grammatischen Vereinfachung einer Einzelsprache, die für bestimmte kommunikative Anforderungen in Handel und Verkehr entsteht bzw. entwickelt und dabei von einzelnen Personen jeweils als Fremdsprache erlernt wird. Sofern sich diese Pidgin-Sprache zu einer eigenständigen Sprache weiterentwickelt, die von einzelnen Personen nicht als Fremdsprache erlernt, sondern als Erstsprache erworben wird, entsteht ein Kreol bzw. eine Kreol-Sprache (Beispiele hierfür finden sich insbesondere im Bereich ehemaliger Kolonien, etwa in der Karibik). Unter einer Mischsprache schließlich ist nicht eine Vereinfachung und Verselbständigung einer bestimmten Einzelsprache, sondern die echte Verbindung mehrerer Sprachen zu einer neuen, gemeinsamen Sprache zu verstehen (so etwa das Jenische als Mischung aus dem Deutschen, dem Jiddischen, dem Romani und dem Rotwelschen).

Die Lingua franca des östlichen Mittelmeers ist hiernach als ein echtes Pidgin mit Einflüssen aus anderen Sprachen anzusehen, nicht jedoch als eine Mischsprache im eigentlichen Sinne. Eine Lingua franca im weiteren Sinne ist diesen Differenzierungen gegenüber offen – es kann sich hierbei entweder um eine etablierte Einzelsprache handeln, aber auch um eine Pidgin- oder eine Kreolsprache sowie nicht zuletzt auch um eine Mischsprache; auch eine künstliche Sprache oder eine Plansprache (wie das Esperanto) ist hier denkbar. Ihre Funktion besteht insbesondere darin, die Kommunikation in solchen Bereichen zu erleichtern oder zu vermitteln, in denen mehrere verschiedene Sprachen verwendet werden; daher ist hier bisweilen etwa auch spezifizierend von (internationaler) Verkehrs- oder Wissenschaftssprache oder von Sprache der Diplomatie die Rede. Sowohl die lateinische als auch die französische Sprache übernehmen in ihrer Geschichte jeweils die Rolle einer solchen international anerkannten Lingua franca in verschiedenen kommunikativen Bereichen, wenn auch jeweils mit anderer Ausprägung.

Linguae francae und Verkehrssprachen in der Welt

Die Entstehung und Verwendung von Linguae francae ist eine Erscheinung, die nicht auf die jüngere Geschichte und den europäischen Raum allein beschränkt ist. So werden etwa bereits in der Antike Akkadisch, Aramäisch, Griechisch und Latein als überregionale Verkehrssprachen im Vorderen Orient und im Mittelmeerraum verwendet. Die Verwendung der lateinischen Sprache setzt sich dann in der Zeit des Mittelalters im europäischen Raum fort; im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit entwickeln sich das Italienische im Mittelmeerraum sowie das Niederdeutsche an der Nord- und Ostsee zu bedeutenden Handelssprachen. Die arabische Sprache verbreitet sich nach dem Aufkommen des Islam als Verkehrs- und Handelssprache vom Vorderen Orient bis Spanien und Westafrika sowie nach Zentralasien. Dort sowie im pazifischen Raum übernehmen Sprachen aus dem Bereich des Hindi und des Malaiischen zunehmend eine entsprechende Funktion, während dem Chinesischen hier bereits eine lange Bedeutung zukommt, die bis in die Gegenwart anhält.

Seit der frühen Neuzeit erscheinen das Portugiesische und das Spanische sowie das Niederländische als bedeutende Handelssprachen, insbesondere im Kontakt mit Südamerika sowie dem südlichen Afrika und Südostasien. Das Französische entwickelt sich seit dem 17. Jahrhundert zur internationalen Sprache der Diplomatie, während das Deutsche seit dem 18. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zur internationalen Sprache der Wissenschaft avanciert; in Osteuropa ist das Deutsche noch immer als Handelssprache verbreitet und erfährt derzeit im südlichen Osteuropa einen neuerlichen Aufschwung, während dort zur Zeit des Kalten Kriegs das Russische eine entsprechende Rolle einnahm. Spätestens mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gilt das Englische als internationale Lingua franca in Politik, Verkehr, Wirtschaft und Wissenschaft, während eine solche Funktion dem Französischen auch weiterhin in West- und Zentralafrika zukommt.

Angesichts dieser nur grob skizzierten Befunde haben das Lateinische und das Französische jeweils als eine über zwei Jahrtausende bzw. eine über zwei bis drei Jahrhunderte lang gebrauchte Lingua franca zu gelten, deren Bedeutung für die sprachliche Situation der Gegenwart jeweils sehr unterschiedlich zu bewerten ist.

Latein als Lingua franca seit dem frühen Mittelalter

Die lateinische Sprache etablierte sich als Lingua franca mit der Expansion des Römerreichs und weiter nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches in weiten Teilen Asiens, Afrikas und Europas. Nur ein äußerst geringer Teil aller bekannten lateinischen Texte stammt indessen aus der Antike selbst; der weitaus überwiegende Teil lateinischen Schriftguts (Archivarien, Dokumente sowie literarische, theologische und wissenschaftlichen Schriften) liegen hingegen aus dem Mittelalter und der Neuzeit vor. Latein erscheint hier nicht als Lingua franca von sämtlichen, sondern lediglich von einzelnen Bevölkerungsgruppen und wird dabei nur in bestimmten kommunikativen Bereichen gebraucht.

So ist Latein bis in das 12. Jahrhundert die Sprache des Klerus in Theologie und Kirche sowie der an den Klöstern betriebenen Wissenschaft, während der Gebrauch einer oder mehrerer Ortssprachen im Sinne von Vielsprachigkeit in einzelnen Regionen und Mehrsprachigkeit von einzelnen Personen eine weit verbreitete Erscheinung in breiten Bevölkerungskreisen Europas darstellt. Der Gebrauch der Lingua franca Latein bleibt somit lediglich einigen privilegierten Gruppen in einem (mit Ausnahme etwa der Liturgie) überwiegend schriftsprachlichen Bereich vorbehalten. Im 16. Jahrhundert beginnt dann der Status der lateinischen Sprache als Lingua franca als Sprache der Kirche indessen immer mehr Einbußen zu erleiden: So hält die neu gegründete Protestantische Kirche zwar am Lateinischen als Sprache der Theologie fest, führt jedoch den Gebrauch einzelner Volkssprachen im Bereich der Verkündigung ein – eine Maßnahme, die seitens der katholischen Kirche erst Jahrhunderte später erfolgen sollte. Noch heute gilt Latein als offizielle Amtssprache der römisch-katholischen Kirche im Vatikan und in der ganzen Welt.

Auch in der seit dem späten Mittelalter zunehmend auch säkular betriebenen Wissenschaft verliert die lateinische Sprache seit dem 17. Jahrhundert mehr und mehr an Bedeutung, wofür mindestens zwei Entwicklungen verantwortlich zu machen sind: Im Rahmen der ersten Entwicklung erlangen verschiedene Angewandte Wissenschaften und diverse technische Disziplinen, die unter der Verwendung anderer, örtlicher Sprachen betrieben werden, zunehmend an Bedeutung. Hierzu zählen unter anderem Seefahrt und Handel, die stark durch das Niederländische geprägt werden, der Bergbau, der in vielen europäischen Sprachen Wortschatzelemente aus dem Deutschen aufweist, oder das Bankwesen, dessen Sprache bis heute nicht unwesentlich durch das Italienische beeinflusst ist. In all diesen Fällen entstehen also neue nationale Fach- oder Wissenschaftssprachen neben dem Lateinischen, die teilweise ihrerseits zu neuen Linguae francae avancieren. Im Zuge der zweiten Entwicklung büßt die lateinische Sprache auch in ihren seit Langem angestammten wissenschaftlichen Kommunikationsbereichen an Bedeutung ein: Dieser Wandel beginnt im deutschen Sprachraum um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert etwa in Disziplinen wie Philosophie und Recht und endet im Verlauf des 19. Jahrhunderts in den Disziplinen Mathematik und Theologie.

Latein wird also als Wissenschaftssprache seit der frühen Neuzeit zunehmend von verschiedenen nationalen Einzelsprachen verdrängt – zunächst in Italien, Frankreich und England, später etwa auch in Deutschland und Polen. Trotz dieses gesamteuropäischen Prozesses wäre es unangemessen, hier einen vollkommenen Verlust der lateinischen Sprache anzunehmen: Von der Verwendung im klerikalen Bereich abgesehen gilt Latein zum einen noch immer als universitäre Publikations- und Promotionssprache; zum anderen basieren viele wissenschaftliche Nomenklaturen auf lateinischem (und daneben griechischem) Wortschatz (so etwa diejenigen der Zoologie, Botanik oder Anatomie). Am Wichtigsten erscheint in diesem Zusammenhang jedoch die Tatsache, dass insbesondere der bildungssprachliche Wortschatz vieler europäischer Sprachen jeweils zahlreiche lexikalische Elemente (sogenannte Fremdwörter) lateinischer Provenienz aufweist. Angesichts solcher Europäismen dient das Lateinische bis in die Gegenwart als partiell gemeinsame etymologische und semantische Grundlage zahlreicher Einzelsprachen Europas und erscheint damit nach wie vor oder mehr denn je omnipräsent. Letztlich lassen sich anhand der Verwendung lateinischer Lexik über zweitausend Jahre europäischer Kultur- und Sozialgeschichte ablesen.2

Die lateinische Sprache ist über viele Jahrhunderte hinweg jedoch nicht allein Sprache von Kirche, Wissenschaft und Bildung – sie ist historisch gesehen darüber hinaus auch weit verbreitet als Sprache der Diplomatie, die meist vom Adel betrieben wird. Allerdings zeichnet sich auch hier bereits in der Frühen Neuzeit eine Veränderung ab: Im Zuge eines weit verbreiteten sprachlichen Patriotismus und einer wachsenden Skepsis gegenüber einem seit dem Humanismus wieder stark an der Antike orientierten Latein (im Mittelalter sind zahlreiche Vereinfachungen im Sinne einer Pidginisierung und teils auch Kreolisierung der lateinischen Sprache zu beobachten) werden einzelne Nationalsprachen zunehmend zu überregionalen und funktional breiten Literatursprachen ausgebaut, die nicht nur in der schöngeistigen, sondern auch in der wissenschaftlichen Literatur Verwendung finden (Ende des 15. Jahrhunderts erscheinen noch nahezu sämtliche Schriften in lateinischer Sprache, Ende des 17. Jahrhunderts ist es dann nurmehr rund die Hälfte; dennoch werden bis in das 19. Jahrhundert wichtige Werke aus dem Bereich der Wissenschaft noch immer in Latein verfasst und veröffentlicht). Im Zuge dieses Aufkommens nationaler Literatursprachen übernehmen spätestens seit dem 17. Jahrhundert zunächst einmal das Spanische und später dann das Französische diese Rolle (vgl. hierzu auch den folgenden Abschnitt).

Jan-Dirk Müller zieht angesichts solcher Entwicklungen der lateinischen Sprache vom Mittelalter bis in die Neuzeit das folgende Fazit:

Als Wissenschaftssprache war es allen Einzelsprachen überlegen, wenn auch auf bestimmte Typen des Wissens beschränkt. Als Fachsprache war es bestenfalls komplementär zu einer im wesentlichen mündlichen volkssprachlichen Praxis, ergänzte diese um schriftsprachliche Elemente. Als Alltagssprache war es gruppen- und institutionengebunden, als Literatursprache auf eine schmale Bildungselite beschränkt.3

Französisch als Lingua franca seit der Frühen Neuzeit

Spätestens zu Beginn des 17. Jahrhunderts beginnen sich in Europa verschiedene Literatursprachen auf der Grundlage regionaler Einzelsprachen zu etablieren. Dieser Prozess wird jeweils von einzelnen Akademien oder Gesellschaften unterstützt – zum Beispiel in Italien durch die bereits 1583 in Florenz gegründete Accademia della Crusca, in Deutschland unter anderem durch die Fruchtbringende Gesellschaft (gegründet 1617 in Weimar) oder in Spanien durch die Real Academia Española (gegründet 1713 in Madrid). In Frankreich erfolgt dieser Schritt im Jahr 1634 mit der Gründung der Académie Française durch Kardinal Richelieu (1585–1642) in Paris. Diese verfolgt bis heute das Ziel, die französische Sprache zu regulieren, und macht noch immer bisweilen durch sprachpuristische Bestrebungen, Elemente anderer Sprachen aus dem Französischen auszusondern, von sich reden.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg und dem Westfälischen Frieden (1648 in Münster und Osnabrück), der die politische, wirtschaftliche und kulturelle Vormachtstellung Frankreichs als straff organisiertem Zentralstaat in Europa für die nächsten knapp zwei Jahrhunderte besiegelt, erfährt auch die französische Sprache einen erheblichen Gewinn an internationaler Bedeutung.4 Französisch etabliert sich nun als Sprache der Diplomatie, als langue diplomatique, und wird an zahlreichen Gerichtshöfen gebraucht; darüber hinaus findet es als Lingua franca wissenschaftlicher, mehr noch aber gebildeter Kreise in fast ganz Europa Verwendung. Die 35-bändige Encyclopédie ou Dictionnaire des sciences, des arts et des métiers, die in den Jahren 1751 bis 1780 von Denis Diderot (1713–1784) und Jean le Rond d'Alembert (1717–1783) herausgegeben wird, gibt von dieser Entwicklung ein beredtes Zeugnis. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass im 18. Jahrhundert große Bevölkerungskreise Frankreichs selbst nicht oder kaum der französischen Sprache mächtig waren, sondern sich anderer Sprachen wie des Baskischen, Spanischen, Flämischen oder Deutschen bedienten; dies gilt bis zur Französischen Revolution und darüber hinaus.

Durch die reiche Eroberungs- und Kolonialgeschichte Frankreichs entfaltet die französische Sprache vom 18. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine weitere Verbreitung in Nordamerika (Kanada, Louisiana), der Karibik, in Teilen Asiens und in Afrika. Auch wenn viele dieser Länder und Kolonien inzwischen wieder verloren (Kanada an England), verkauft (Louisiana an Amerika) oder in die Unabhängigkeit entlassen wurden (insbesondere in Afrika), wird hier die französische Sprache auch weiterhin gebraucht und findet dabei oftmals bis heute auch als Lingua franca Verwendung, die zum Teil im Verlauf der Geschichte zahlreichen Veränderungen im Sinne einer Pidginisierung und Kreolisierung unterliegt (etwa in der Karibik).

Der Bedeutungsverlust des Französischen als Lingua franca auf dem europäischen Kontinent indessen zeichnet sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts ab: Auch wenn nach den Napoleonischen Kriegen auf dem Wiener Kongress (1814–15) die Neuordnung Europas in französischer Sprache verhandelt wird, zieht sich deren Gebrauch zunehmend auf die Bereiche Bildung (zum Teil auch Wissenschaft) und Diplomatie zurück; gerade im Bildungsbürgertum im Osten und Norden Europas erfreut sich das Französische noch verhältnismäßig lange größerer Beliebtheit. Als Lingua franca gerät das Französische jedoch bereits seit dem 19. Jahrhundert zunehmend unter den Druck des Englischen: Im Zuge der frühen Industriellen Revolution und der damit verbundenen technologischen und wissenschaftlichen Fortschritte gewinnt Großbritannien in Europa zunehmend an Einfluss und etabliert sich nach und nach als Weltmacht.

Spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nehmen die Vereinigten Staaten von Amerika diese Rolle ein und legen damit den Grundstein für die Herausbildung des Englischen als internationaler Lingua franca, die nicht allein in Diplomatie, Technik und Wissenschaft, sondern auch in der Wirtschaft und im Alltag globale Bedeutung erlangt.5 Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung stellt der Zusammenbruch der Sowjetunion dar, mit dem auch das Russische als Lingua franca zahlreicher Länder des sogenannten Ostblocks an Bedeutung verliert. Trotz intensiver sprachpolitischer Bemühungen der Republik Frankreich konnte die französische Sprache in dieser Region kaum mehr rehabilitiert werden, sondern sieht sich derzeit vielmehr einem Rückgang weltweit gegenüber. Während also das Lateinische die Kulturen und die Sprachen Europas bis heute stark prägt, ist das "Modell Versailles" letztlich trotz seiner Bedeutung nur von verhältnismäßig kurzem Bestand; sprach- und ideengeschichtlich erweisen sich hier die französische Aufklärung und die Französische Revolution als prägender.

Latein und Französisch in der deutschen Sprachreflexion des 17. und 18. Jahrhunderts

Das Spannungsfeld, das im 17. und 18. Jahrhundert zwischen dem Gebrauch des Lateinischen und dem des Französischen als Linguae francae besteht, lässt sich anhand der Sprachreflexion im deutschen Sprachraum gut rekonstruieren. Dies liegt daran, dass hier zur Zeit des Barock und der Aufklärung die Entwicklung einer nationalen Literatursprache angestrebt wird,6 diese Entwicklung jedoch von einer intensiven Auseinandersetzung mit der alten europäischen Lingua franca Latein7 und der neuen Lingua franca Französisch8 begleitet wird. Einen Brennpunkt bilden hier bereits Ende des 17. Jahrhunderts zwei kleine Schriften in deutscher Sprache von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)[], dessen bedeutende Werke noch auf Latein oder Französisch erschienen sind.

So nennt Leibniz in seiner 1682 verfassten und 1846 erstmals veröffentlichten programmatischen Schrift "Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache besser zu üben" mindestens fünf Gründe für das verhältnismäßig lange Beharrungsvermögen des Lateinischen im deutschen Sprachraum: Zum einen seien noch zahlreiche Gelehrte seiner Zeit der Auffassung, dass wissenschaftliche Überlegungen allein auf Latein oder Griechisch angestellt und geäußert werden könnten (bzw. befürchteten, im Falle der Wahl einer anderen Sprache wie Deutsch rasch mangelnder Einschlägigkeit überführt zu werden). Zum anderen führt Leibniz folgende Gründe an: die Folgen des Dreißigjährigen Kriegs, die den deutschen Sprachraum kulturell, sprachlich, ökonomisch und politisch zerstört hätten; das Fehlen einer gemeinsamen Hauptstadt für das deutsche Sprachgebiet als politisches, ökonomisches und eben auch kulturelles Zentrum; die mehr als nur konfessionelle Spaltung in eine römisch-katholische und eine protestantisch-evangelische Kirche und nicht zuletzt die nur geringe Förderung der deutschen Sprache (die im 17. Jahrhundert durch die deutschen Sprachgesellschaften letztlich bescheiden ausfällt).

Leibniz verbindet diese Überlegungen schließlich mit der Forderung, das Deutsche zu einer Literatur- oder Wissenschaftssprache zu entwickeln. In seiner 1697 verfassten und zwanzig Jahre später veröffentlichten Schrift Unvorgreiffliche Gedancken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache nennt er dann drei Strategien, wie das Deutsche entsprechend gepflegt werden könne: die Verwendung von wenig gebrauchten Wörtern wie Archaismen und Regionalismen, der gezielte Gebrauch von Fremdwörtern sowie die Einführung neuer Wörter durch die bekannten Wortbildungsmöglichkeiten. Eine Umsetzung dieser Forderung erfolgt erst durch Christian von Wolff (1679–1754), einen Schüler von Leibniz, der in zahlreichen Schriften eine wissenschaftliche Terminologie deutscher Sprache entwickelt. Weitere Meilensteine dieser Entwicklung stellen dann insbesondere die großen Wörterbücher, Grammatiken und Stillehren von Justus Georg Schottelius (1612–1676) im 17. Jahrhundert sowie von Johann Christoph Adelung (1732–1806) und Johann Christoph Gottsched (1700–1766) im 18. Jahrhundert dar.

Vor dem Hintergrund der langsam einsetzenden und durchgeführten Verdrängung der lateinischen Sprache als Lingua franca und der Einführung des Deutschen als Literatur- und Wissenschaftssprache ist es nicht verwunderlich, dass auch die Etablierung der französischen Sprache als Lingua franca vom deutschen Sprachdenken der Zeit nicht ohne kritische Auseinandersetzung begleitet wird. Mehr noch als im Falle des Lateinischen wird hier mit sprachkulturellen Stereotypen gearbeitet, wobei dem Französischen wiederholt einerseits Elaboriertheit und Höflichkeit wie dem Deutschen entsprechend Schwerfälligkeit zugeschrieben werden; andererseits wird der Gebrauch des Deutschen als Garant für Sachlichkeit gesehen, dem Unsachlichkeit und Unehrlichkeit im Französischen gegenüberstehen.

Letztlich wird deutlich, dass der Gebrauch beider Linguae francae im deutschen Sprachraum auch innerhalb der gesellschaftlichen Kreise, in denen diese in Wissenschaft, Kirche, Verwaltung, Wirtschaft oder Diplomatie in unterschiedlicher Gewichtung verwendet werden, nicht unvoreingenommen erfolgt. Vielmehr zeigt sich, dass der partielle Wechsel von der lateinischen zur französischen Lingua franca auch und vielleicht besonders im deutschen Sprachraum in einem nicht unwesentlichen Spannungsverhältnis zur Entstehung anderer nationaler Literatursprachen steht.

Latein, Französisch, Englisch – und Chinesisch?

Die Zeit Versailles' ist im Großen und Ganzen geprägt durch den Verlust der Lingua franca Latein und durch die Etablierung der Lingua franca Französisch. Dieser allgemeine Befund bedarf indessen einiger Differenzierungen – nicht zuletzt auch mit Blick auf das Englische als Lingua franca der Gegenwart (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1: Die Linguae francae Latein, Französisch und Englisch im Vergleich.

Lingua franca

Latein

Französisch

Englisch

Zeit (Dauer)

Antike bis 17. bzw. 18. Jahrhundert
(über 2000 Jahre)

17. bis 20. Jahrhundert
(rund 300 Jahre)

19. Jahrhundert bis heute

Erst-/Fremdsprache

Seit Mittelalter nur als Fremdsprache

Erst- und Fremdsprache

Erst- und Fremdsprache

Bereiche

Theologie, Wissenschaft, Verwaltung, Diplomatie

(Angewandte) Wissenschaft, Bildung, Diplomatie

Gesamte internationale Kommunikation

Grund für Etablierung

Kommunikative Überdachung verschiedener sprachlicher Regionen in Europa

Etablierung nationaler Literatursprachen unter Vormachtstellung Frankreichs

Vormachtstellung von Großbritannien und der USA (Politik, Wirtschaft usw.)

Grund für Verlust

Etablierung nationaler Literatursprachen (u.a. in Italien, Frankreich, Deutschland)

Konkurrenz durch englischsprachige Nationen (Großbritannien und Vereinigte Staaten von Amerika)

Wachsende Bedeutung von China und Indien (Politik, Wirtschaft usw.)?

Verbleiben

Theologie, Nomenklaturen, Europäismen

(partiell) Bildung und Diplomatie

(derzeit) in allen Lebensbereichen

So erstreckt sich der Gebrauch der lateinischen Sprache als Lingua franca über einen Zeitraum von über 2000 Jahren, während derjenige der französischen Sprache lediglich etwa 300 Jahre währt; das Englische kann seit etwa eineinhalb Jahrhunderten als Lingua franca angesehen werden. Wie das Englische wird auch das Französische nicht allein als fremdsprachliche Lingua franca gesprochen und geschrieben und bedingt damit eine Unwucht in der Sprachkompetenz der Verwenderinnen und Verwender, die zu einer kommunikativen Hegemonie bestimmter Teile der Bevölkerung führen kann; das Lateinische wird demgegenüber seit dem Mittelalter ausschließlich als fremdsprachliche Lingua franca gebraucht (angesichts seiner Weiterentwicklung ist dabei die Redeweise von einer "toten Sprache" kaum angemessen).

Die Gründe für die Etablierung der drei Linguae francae sind unterschiedlich: Während das Lateinische bereits in der Antike die Rolle einer kommunikativen Überdachung zahlreicher Regionen Europas übernimmt und im Mittelalter wie der Neuzeit beibehält, kann das Französische eine solche Funktion letztlich durch zwei Entwicklungen entfalten – die Etablierung zahlreicher nationaler Literatursprachen in Europa9 bei der Herausbildung einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Vormachtstellung Frankreichs nach dem Westfälischen Frieden; das Englische verdankt seine noch junge Rolle als Lingua franca der wachsenden Vormachtstellung englischsprachiger Nationen – zunächst Großbritanniens und dann der Vereinigten Staaten von Amerika.10 Bemerkenswert ist hierbei die globale Verwendung der englischen Sprache in allen Bereichen internationaler Kommunikation, während die lateinische und die französische Sprache stets bestimmten, aber jeweils nicht genau denselben kommunikativen Bereichen vorbehalten bleiben.

Die Etablierung nationaler Literatursprachen mag letztlich als Grund für den Verlust der lateinischen Sprache als Lingua franca gelten, wobei diese in einigen Bereichen der Theologie und der Wissenschaft sowie als semantischer Kern zahlreicher Europäismen im Wortschatz verschiedener europäischer Sprachen erhalten geblieben ist. Demgegenüber weicht die französische der englischen Lingua franca im Zuge einer wachsenden Vormachtstellung englischsprachiger Nationen – zunächst Großbritanniens und später der Vereinigten Staaten von Amerika. Über die Zukunft der inzwischen global verbreiteten Lingua franca Englisch kann indessen nur spekuliert werden: Auch wenn derzeit rund 400 Millionen Menschen Englisch als Erst- und etwa 1,5 Milliarden Menschen als fremde Sprache verwenden und internationales Schrifttum englischer Sprache in einigen Bereichen inzwischen zwischen 90 und 100 Prozent ausmacht, könnte sich deren Bedeutung in den kommenden Jahrzehnten angesichts der wachsenden politischen, wirtschaftlichen usw. Bedeutung Chinas oder Indiens gegenüber deren Sprachen abschwächen.

Thorsten Roelcke

Anhang

Literatur

Berschin, Helmut / Felixberger, Josef / Goebl, Hans: Französische Sprachgeschichte, 2. überarbeitete und ergänzte Aufl., Hildesheim 2008.

Crystal, David: English as a Global Language, 2. Aufl., Cambridge 2003. URL: http://doi.org/10.1017/CBO9780511486999 [2022-11-07]

Galloway, Nicola / Rose, Heath: Introducing Global Englishes, Abingdon 2003. URL: http://doi.org/10.4324/9781315734347 [2022-11-07]

Gardt, Andreas (Hg.): Nation und Sprache: Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart, Berlin u.a. 2000. URL: http://doi.org/10.1515/9783110890600 [2022-11-07]

Leibniz, Gottfried Wilhelm: Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache: Zwei Aufsätze, hg. v. Uwe Pörksen, Stuttgart 1983.

Leonhardt, Jürgen: Latein: Geschichte einer Weltsprache, München 2009.

Müller, Jan-Dirk: Latein als lingua franca in Mittelalter und Früher Neuzeit?, in: Konrad Ehlich (Hg.): Mehrsprachige Wissenschaft – europäische Perspektiven: Eine Konferenz im europäischen Jahr der Sprachen, München 2002. URL: http://www.yumpu.com/s/x3rmD3mo6Ate0Z5y [2022-11-07]

Polenz von, Peter: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, 1. und 2. überarbeitete und ergänzte Aufl., Berlin 2000–2013, vol. 1–3. URL: http://doi.org/10.1515/9783110824889 (vol. 1) / http://doi.org/10.1515/9783110314670 (vol. 2) / http://doi.org/10.1515/9783110805918 (vol. 3) [2022-11-07]

Roelcke, Thorsten: Von Dezentralität über Partikularismus zu Pluralismus: Vielfalt als Konstante deutscher Sprachgeschichte, in: Der Sprachdienst 62, 3 (2018), S. 111–118.

Roelcke, Thorsten: Viel- und Mehrsprachigkeit, in: Csaba Földes u.a. (Hg.): Handbuch Mehrsprachigkeit, Berlin 2022 (Handbücher Sprachwissen 22).

Roelcke, Thorsten: Französisch in Barock und Aufklärung: Studien zum Sprachdenken in Deutschland des 17. und 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2014.

Roelcke, Thorsten: Geschichte der deutschen Sprache, 2. durchgesehene und aktualisierte Aufl., München 2018.

Roelcke, Thorsten: Latein, Griechisch, Hebräisch: Studien und Dokumentationen zur deutschen Sprachreflexion in Barock und Aufklärung, Berlin u.a. 2014.

Anmerkungen

  1. ^ Vgl. Roelcke, Viel- und Mehrsprachigkeit 2022.
  2. ^ Vgl. Leonhardt, Latein 2009.
  3. ^ Müller, Latein als lingua franca 2002, S. 14.
  4. ^ Vgl. Berschin / Felixberger / Goebl, Sprachgeschichte 2008.
  5. ^ Vgl. z.B. Galloway / Rose, Global Englishes 2015.
  6. ^ Vgl. von Polenz, Deutsche Sprachgeschichte 20002013.
  7. ^ Vgl. Roelcke, Latein, Griechisch, Hebräisch 2014.
  8. ^ Vgl. Roelcke, Französisch in Barock und Aufklärung 2014.
  9. ^ Gardt, Nation und Sprache 2000.
  10. ^ Vgl. Crystal, Global Language 2003.