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erstellt von Boris Barth zuletzt geändert 2020-07-10T18:25:01+01:00
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Beitrag auf Englisch
Rassismus ist nicht an einem bestimmbaren Ort oder zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden. Der Beitrag untersucht die unterschiedlichen Entwicklungsstränge, die für die Entwicklung rassischen Denkens charakteristisch waren. Hierbei wird auf aktuelle Forschungskontroversen und unterschiedliche nationale Traditionen in der Geschichtsschreibung eingegangen. Rassismus war eindeutig ein Phänomen der Neuzeit, das sich weitgehend auf die von Europäern dominierten geographischen Sphären beschränkte. Untersucht werden die Entstehung von rassischem Denken in europäischen Siedlungskolonien, die Probleme der Aufklärungsphilosophie und die Biologisierung der Welt seit dem späten 19. Jahrhundert. Abschließend wird der Frage nachgegangen, ob rassistisches Denken vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen der Vergangenheit angehört.

Einleitung

Rassismus ist nicht an einem bestimmbaren Ort oder zu einem datierbaren Zeitpunkt entstanden. Die Etymologie des Begriffes "Rasse" ist unsicher und findet sich seit dem Spätmittelalter in mehreren Sprachen und in einer Vielzahl von Bedeutungen. Der Terminus "Rassismus" hingegen ist relativ jung und tauchte erst in den 1920er Jahren auf, um die nationalsozialistische Ideologie in Deutschland zu charakterisieren. Eine eindeutige und unstrittige Definition von Rassismus ist nicht möglich.1 Das Phänomen, das durch den Terminus "Rassismus" beschrieben wird, das heißt die offene oder versteckte Diskriminierung willkürlich definierter sozialer oder ethnischer Gruppen, ist sehr viel älter als die Geschichte des Begriffes. Nur wenige Historiker bestreiten aber, dass es sich um ein neuzeitliches Phänomen handelte, dem häufig komplexe gesellschaftliche Gegebenheiten und die Biologisierung von sozialen Systemen zugrunde lagen.

Eine vergleichende Geschichtsschreibung zum Thema des Rassismus wird durch unterschiedliche Forschungstraditionen erschwert, die unabhängig voneinander entstanden sind. In der angelsächsischen Welt wurde Rassismus oft mit der Unterdrückung von Farbigen in den USA, Südafrika oder in den Kolonien gleichgesetzt. Deshalb steht in vielen Analysen das Problem der Perzeption von Hautfarbe im Zentrum. Viele kontinentaleuropäische Historiker haben sich – bedingt durch die Shoah – demgegenüber vor allem der Geschichte des Antisemitismus zugewandt, weil der Völkermord an den europäischen Juden als Fixpunkt allen rassistischen Denkens angesehen wird.2 Strittig ist hier, ob und inwieweit neuartige rassistische Vorstellungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ältere, primär religiös motivierte antijüdische Vorurteile ablösten. Ferner bestehen Kontroversen zu der Frage, wie der Umschlag von rassistischen Vorurteilen in den genozidalen Vernichtungswahn des nationalsozialistischen Regimes zu erklären ist.

Rassistische Vorstellungen wurden niemals im freien Raum formuliert, sondern sie standen stets in Korrespondenz und Konkurrenz zu anderen Meinungen, mit denen sie sich auseinandersetzten. Deshalb reicht es zum Verständnis von Rassentheorien nicht aus, bestimmte geistesgeschichtliche Strömungen eindimensional nachzuzeichnen oder zu beschreiben. Vor allem muss bei der Analyse stets gefragt werden, warum vor dem jeweiligen Hintergrund des zeitgenössischen Denkens und Handelns rassistische Konzepte für bestimmte soziale Gruppen attraktiv waren.

Kontrovers wird diskutiert, ob Rassismus nur in Europa und in europäischen Siedlungskolonien bestand, oder ob es auch andere außereuropäische Gesellschaftsformationen gab, die nach rassischen Kriterien hierarchisierten. Hierzu gehört beispielsweise das indische Kasten-System, dessen Strukturen und dessen Genese stark umstritten sind. Einige Autoren sehen "Kaste" als Kennzeichnung eines schichtenspezifischen Rassenkonfliktes,3 doch stehen systematische vergleichende Studien noch aus.

Vormoderne Rassenvorstellungen und Rassismus

Mit wenigen Ausnahmen stimmen die meisten Historiker darin überein, dass bei einer strengen Definition in der europäischen Antike und im Mittelalter kein Rassismus existierte. Selbstverständlich bestanden Fremdbilder und Stereotypen, und in der Regel wurde die eigene Stadt, das Volk, die Sprachgemeinschaft oder die eigene Kultur als Norm gesetzt. Xenophobie, das heißt die Ablehnung des Fremden, scheint eine anthropologische Konstante zu sein, die sich in nahezu jeder Kultur finden lässt. Die antiken Griechen und Römer sahen zwar im Fremden den Barbaren, doch stellte Hautfarbe kein Distinktionsmerkmal dar. Ihr Exklusivitätsanspruch bezog sich auf die Kultur bzw. war politisch geprägt: Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass zumindest in der späten Kaiserzeit auch einige farbige Afrikaner das römische Bürgerrecht besaßen.4

Das europäische Mittelalter war primär durch Religion geprägt, das heißt nicht das Aussehen, sondern die Bereitschaft zur Taufe und zu einem christlichen Lebenswandel bestimmte die gesellschaftliche Position. Die prinzipiell universale Ausrichtung der christlichen Kirche verhinderte die Ausbildung rassischer Kriterien. Allerdings lösten muslimische farbige afrikanische Truppen bei den Kreuzfahrern im Heiligen Land Entsetzen aus. Hieraus folgte aber keine generelle Stigmatisierung, denn in der europäischen christlichen Mythologie finden sich zahlreiche dunkelhäutige Märtyrer und Heilige (Gereon, Mauritius, Balthasar). Getaufte Juden wurden in der Regel gesellschaftlich integriert, ungetaufte jüdische Gemeinschaften hatten hingegen eine unsichere Stellung, die besonders in Krisenzeiten (z.B. während des ersten Kreuzzuges) offensichtlich wurde.5

Die Stellung des farbigen Afrikaners in der europäischen Frühen Neuzeit war ambivalent. Einerseits wurden fast alle Afrikaner, die nach Mitteleuropa kamen, als Sklaven gekauft, doch bestand die Institution der Rassensklaverei in Europa nicht. "Mohren" waren als exotisches Zubehör, als Diener, Musiker oder Soldaten im Hofstaat des Barock begehrt. Außerhalb der Hofgesellschaften gehörten sie sozial zu den Unterschichten. Einigen Afrikanern, die an europäischen Fürstenhöfen erzogen wurden, gelang eine beeindruckende Karriere. Gut dokumentiert sind beispielsweise die Fälle von Anton Wilhelm Amo (ca. 1703–1753) aus Ghana, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland zeitweise zum Professor der Philosophie ernannt wurde, oder von Ibrahim Hannibal (ca. 1696–1781), Alexander Pushkins (1799–1837) Urgroßvater, der es in Russland bis zum General in der zaristischen Armee brachte.6

Drei frühneuzeitliche Entwicklungen waren dafür verantwortlich, dass rassische Stereotypen Eingang in europäische Weltbilder fanden: die Entstehung des transatlantischen Sklavenhandels, die Formierung von Sozialstrukturen in europäischen Siedlungskolonien und die "limpieza de sangre" ("Reinheit des Blutes") auf der iberischen Halbinsel.

Der transatlantische Sklavenhandel entwickelte sich aus bescheidenen Anfängen seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zu einem komplexen, diversifizierten und globalen Wirtschaftszweig, der teilweise drei (Europa, Afrika, Amerika) bzw. mit seinen indirekten Wirkungen sogar vier Kontinente (Teile von Südasien) erfasste."A slave auction at the south", USA, Holzschnitt, 1861, Theodore R. Davis (1840–1894); Bildquelle: Harper's weekly vom 13.07.1861, 5, 237 (1861), S. 442; Library of Congress, DIGITAL ID: (b&w film copy neg.) cph 3a06254 http://hdl.loc.gov/loc.pnp/cph.3a06254, LCCN Permalink: http://lccn.loc.gov/98510250. Kontrovers ist, ob bei diesem Sklavenhandel bereits zu Beginn rassische Vorstellungen existierten. Wurden Afrikaner in die Neue Welt als Sklaven verschickt, weil sie als minderwertig angesehen wurden, oder stand am Anfang ein Marktsystem, und Rassenvorstellungen entwickelten sich erst während des Aufstiegs der Sklaverei? Die Debatte um diese Frage ist im Fluss, und es existieren gute Argumente für beide Thesen.7 Die Etablierung des transatlantischen Sklavenhandels funktionierte strikt nach frühkapitalistischen Marktregeln. Kennzeichnend war ferner, dass Europäer an den afrikanischen Küsten Menschen kauften, die bereits versklavt waren, das heißt sie etablierten Geschäftsbeziehungen mit afrikanischen oder arabischen Zwischenhändlern, mit denen sie auf gleicher Augenhöhe verkehren mussten.8 Dennoch trug der Handel in wachsendem Maße dazu bei, dass Afrikaner in der Neuen Welt als minderwertig betrachtet wurden.

In mehreren europäischen Siedler- und Pflanzerkolonien entstanden rassisch gegliederte Sozialstrukturen, die fast immer mit der Sklaverei zusammenhingen. Explizite Begründungen für die Schaffung von Hierarchien wurden erst sehr viel später entwickelt, wenn diese Strukturen bereits etabliert waren. Im spanischen Kolonialreich der frühen Neuzeit entstand in der Theorie ein nach Abstammung gegliedertes Sozialsystem, in dem sowohl zwischen Weißen, Schwarzen und Indianern als auch zwischen Mischlingen jeder denkbaren Kombination scharf unterschieden wurde. Allerdings war dieses System in der Praxis durchlässiger als in der Theorie, und viele Menschen waren bemüht und in der Lage, ihre jeweilige Stellung zu verbessern.9 Deshalb hat sich der Begriff der "social race" (Magnus Mörner) eingebürgert. In diesem System bestanden rassische Elemente; aber es würde zu weit gehen, von einem durchgängigen Rassismus zu sprechen. Sowohl im spanischen als auch im portugiesischen Kolonialreich entwickelte sich von Anfang an eine Schicht von Mischlingen, die einen eigenständigen Status erhielt, während Mischlinge in den britischen protestantischen Kolonien die große Ausnahme blieben.10

Rassische Gesellschaftshierarchien entstanden im britischen nordamerikanischen Kolonialreich "vor Ort", obwohl im britischen Mutterland keine Rassensklaverei als legale Instanz existierte. Unter amerikanischen Historikern besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die frühen Siedler in Virginia, den Carolinas oder in der Karibik noch keine rassischen Hierarchien kannten, die Pflanzer aber von Anfang an bemüht waren, das de facto bestehende System der Zwangsarbeit ("indentured servitude") auf ihren Plantagen auszuweiten. Indianische Kriegsgefangenensklaverei erwies sich als wenig praktikabel, weil Indianer das Land kannten, sich solidarisierten und zugleich mit der Hilfe ihrer Völker rechnen konnten. Gegenüber Weißen stieß das System an eine natürliche Grenze, weil deren offene Versklavung dazu geführt hätte, dass bald keine Arbeiter oder Siedler mehr in Europa hätten angeworben werden können. Der Import von bereits versklavten Afrikanern hingegen war ohne diese Rücksichten möglich. Innerhalb von etwa zwei bis drei Generationen entstand im 17. Jahrhundert ein Arbeitssystem, das auf unfreier farbiger Arbeit beruhte.11 Am Ende dieser Entwicklung stand eine Gesellschaftsstruktur, in der die Begriffe "negro" und vollständig rechtloser "servant" bzw. "slave" identisch geworden waren. Eine Flut von Regelungen, die vor allem das Verhalten der Weißen gegenüber den Farbigen scharf abgrenzte, zementierte diese gesellschaftliche Hierarchie, und die eigentliche Anomalität stellte der freie bzw. freigelassene Farbige dar. Die schärfste Waffe zur Konservierung dieser Ordnung war die "one drop of blood-rule", die besagte, dass bereits ein Tropfen afrikanischen Blutes die entsprechende Person zum minderwertigen Farbigen stempelte. Auf diese Weise konnte keine eigenständige Schicht von Mischlingen entstehen, die über eine differente soziale Stellung verfügten.

Diese Prozesse gesellschaftlicher Strukturbildung waren charakteristisch für zahlreiche europäische, meist protestantische Siedlungskolonien zwischen dem 17. und dem frühen 20. Jahrhundert. Auch nach der Abschaffung der Sklaverei versuchten Siedler – oft im direkten Konflikt mit "ihrer" Kolonialmacht – rassisch gegliederte Sozialstrukturen gegenüber den jeweiligen indigenen Bevölkerungen durchzusetzen. Auf diese Weise sicherten sie sich eine politisch, sozial und ökonomisch privilegierte Stellung. Diese Mechanismen sind bei den Buren in Südafrika genauso zu beobachten wie bei britischen Siedlern in Australien, französischen Siedlern in Algerien oder später bei deutschen Siedlern in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika.12

Eine besondere Form des vormodernen Rassismus, die "limpieza de sangre" ("Reinheit des Blutes"), setzte sich im frühneuzeitlichen Spanien nach der Vertreibung der Mauren durch. Diese Doktrin, deren mittelalterliche Ursprünge umstritten sind, richtete sich gegen konvertierte Juden und ihre Nachkommen, denen vorgeworfen wurde, ihr Blut sei durch Abstammung verdorben. Der Kult des Blutes wurde aus Volksquellen geprägt und nur langsam von Staat und Kirche übernommen, setzte sich dann aber in offenem Widerspruch zum universellen Geltungsanspruch der katholischen Kirche nach der Vertreibung der Juden vor allem im Adel durch. Trotz Konversion wurden ehemalige Juden und ihre Nachkommen nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt, sondern durch ein immer engmaschiger werdendes Netz von Bespitzelungen und inquisitorischem Fanatismus überwacht. Jeder Spanier, der bestimmte Positionen im Klerus, in Ritterorden oder an Universitäten anstrebte, hatte in einer aufwendigen und langwierigen Prozedur den Nachweis der Reinheit seines Blutes zu erbringen. Der Kult des Blutes blieb in der frühen Neuzeit auf Spanien beschränkt und wurde kein Modell für andere Kulturen – selbst in den spanischen Kolonien trat er nur in abgeschwächter Form auf. Auch wurde die Ausgrenzung der "conversos" niemals mit letzter Konsequenz durchgesetzt. Zahlreiche "conversos" gelangten zu Reichtum, Würden und Ämtern, weil sich die Bürokratie korrumpieren ließ.13

In der frühneuzeitlichen Welt existierten Gesellschaftsordnungen, die nach rassischen Kriterien gegliedert waren, es fehlten aber weitgehend die theoretischen Rechtfertigungen, die Menschen anderer Hautfarbe diskriminiert hätten. Der transatlantische Sklavenhandel kam ohne Begründungen aus. Explizite Rassentheorien sind eindeutig der späteren Neuzeit zuzurechnen.

Die Probleme der Aufklärung

Scharfe Kontroversen ranken sich um die Frage, ob und inwieweit die Aufklärung als eine Zäsur in der Geschichte des Rassismus anzusehen ist. Einige Autoren heben hervor, dass das Bemühen der Aufklärung, die Welt zu systematisieren und in einigen Fällen zu hierarchisieren, dazu beigetragen habe, neuartigen Rassentheorien den Boden zu bereiten. Bereits vor der eigentlichen Aufklärung versuchten Gelehrte, die Natur in der "Großen Kette des Seins" zu systematisieren, beginnend bei den unbelebten Dingen bis hin zum Menschen und den himmlischen Wesen als höchster Stufe. Die Idee der "großen Kette" ("lex continui") fand sich bereits bei Aristoteles (384–322 v. Chr.), wurde von Baruch de Spinoza (1632–1677), Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und John Locke (1632–1704) weiter entwickelt und ließ sich mit kirchlichen Lehrmeinungen in Einklang bringen. Die Theorie der großen Kette schloss noch im 18. Jahrhundert meistens Wertungen aus, und besonders Leibniz vertrat eine Klimatheorie, nach der jedes Geschöpf seine ihm eigentümliche Daseinsberechtigung hatte. Insbesondere die vermuteten Übergänge zwischen Pflanzen und Tieren sowie den Tieren und dem Menschen stießen aber auf philosophisches Interesse.14 Nicht so sehr Philosophen, sondern europäische Anatomen entwarfen die These, dass der Afrikaner ein mögliches Zwischenglied zwischen dem Menschen und den menschenähnlichen Affen sein könnte. Die Phrenologie stellte einen Zusammenhang zwischen Schädelformen und Intelligenz bzw. Verhaltensmustern her und erlebte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts einen erheblichen Aufschwung, war als Wissenschaft aber niemals unumstritten.15

Die seit dem 17. Jahrhundert stetig wachsenden naturkundlichen Sammlungen erweckten bei Naturforschern den Wunsch nach weiterer Klassifizierung, die ihren Höhepunkt mit dem schwedischen Botaniker Carl von Linné (1707–1778) erreichte. Er entwarf ein konsistentes Schema, in dem die Tier- und Pflanzenwelt in Gattungen, Arten, Rassen etc. unterteilt wurde.16 Zahlreiche weitere Gelehrte werden in einigen Lehrbüchern zu den Vorvätern der modernen Rassentheorien gezählt, weil sie theoretische Bausteine lieferten, die sich später rassistisch missbrauchen ließen. Viele dieser Persönlichkeiten waren aber keine Rassisten, sondern setzten sich leidenschaftlich und in aufklärerischer Manier gegen – modern gesprochen – rassistische Diskriminierungen und die Rassensklaverei ein. Hierzu gehörte etwa Pieter Camper (1722–1789), der umfangreiche Vermessungen an Schädeln vornahm und Unterschiede zwischen dem afrikanischen und dem europäischen "Gesichtswinkel" festzustellen glaubte. Zugleich verfasste er aber kompromisslose Abhandlungen gegen Diskriminierung nach Hautfarbe.17

Bei zahlreichen Aufklärern taucht der Begriff der "Rasse" auf; es wäre aber verfehlt, wenn damit heutige Assoziationen verbunden würden. Bereits Hannah Arendt (1906–1975) hat sich vehement gegen die Methode gewandt, die in übergroßer Gründlichkeit alle Stellen sammelte, in denen das Wort "Rasse" erwähnt wurde. Dadurch seien ganz harmlose Autoren mit ausgesprochenen Ideologen auf eine Stufe gestellt worden.18 Im 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde der Terminus naiv und ohne den heutigen pejorativen Beiklang benutzt. Dies hat auch in der historischen Forschung zu Missverständnissen beigetragen. Der Göttinger Arzt und Anatom Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) verfasste beispielsweise ein lateinisches Buch, in dem er auf seinem Kenntnisstand die "nationes" (Völker) der Welt schilderte, sich mit glühenden Worten gegen die Sklaverei aussprach und jede negative Bewertung des Afrikaners scharf ablehnte.19 Blumenbachs englischer Übersetzer übertrug "nationes" zu "races", und der Begriff der "Rassen" wurde von dort wiederum in die deutsche Ausgabe übernommen. Seitdem wird Blumenbach gelegentlich zu den Urvätern der Rassentheoretiker gerechnet, obwohl seine Schrift etwas anderes intendierte. Zahlreiche Aufklärer entwarfen auch das Stereotyp des unverdorbenen "edlen Wilden" als moralisierendes Gegenmodell für die kritikwürdigen Verhältnisse in Europa.

Eine Kernfrage, mit der sich die Aufklärung intensiv befasste, stellten die Ursprünge der Menschheit dar. Wenn alle Menschen von einem Paar (Adam und Eva) abstammten, musste erklärt werden, warum die Völker auf unterschiedlichen Kontinenten unterschiedlich aussahen. Die Anhänger der Monogenese standen vor einem Problem, das kaum lösbar schien. Zwar bot die Klimatheorie, die die Kraft der Sonne am Äquator für die schwarze Hautfarbe der Afrikaner verantwortlich machte, einen Ansatzpunkt. Die Klimatheorie konnte aber mindestens drei Faktoren nicht schlüssig erklären. Wenn die Welt – wie die meisten Aufklärer annahmen – etwas mehr als 5.000 Jahre alt war, musste erstens die Entwicklung von unterschiedlichen Physiognomien sehr schnell verlaufen sein. Zweitens aber waren vergleichbare Veränderungen in der Gegenwart nicht zu erkennen, denn Afrikaner, die in die gemäßigten Klimazonen gebracht wurden, blieben genauso wie ihre Kinder schwarz. Die Lösung, dass die Hautfarbe ursprünglich vom Klima verändert, dann aber dauerhaft geworden sei, wurde zwar häufig vertreten, konnte aber nicht vollständig überzeugen. Auch vermochte die Klimatheorie drittens nicht zu erklären, warum Afrikaner schwarz waren, andere Menschen in ähnlichen Klimazonen (Südamerika) aber anders aussahen und warum am Kap der Guten Hoffnung, wo ein Klima herrschte, das Europa ähnlich war, ebenfalls Farbige lebten.

Die alternative Erklärung der Polygenese war in keiner Weise mehr mit kirchlichen Lehrmeinungen vereinbar. Diese Theorie ging von der Annahme aus, dass die Menschheit unabhängig voneinander an mehreren Stellen der Welt entstanden sei. Ein prominenter Vertreter war Voltaire (1694–1778), der als einer der ersten Europäer zugleich zugestand, dass der europäische Weg zur Zivilisation keineswegs der einzig denkbare sei und andere Völker unabhängig von Europa diesen Weg ebenfalls finden könnten. Die Polygenese war unter vielen Aufklärern wegen ihres dezidiert antiklerikalen Akzentes populär. Zugleich bot die polygenetische Erklärung aber einen Ansatz, den spätere Rassentheoretiker nutzten. Wenn die Menschheit keinen gemeinsamen Stammvater hatte, ergab es Sinn, von unterschiedlichen Rassen zu sprechen, die unterschiedliche Charaktermerkmale hatten.

Viele Vorstellungen der Aufklärer waren bewusst hypothetisch formuliert, so dass es überzogen wäre, von entwickelten Rassentheorien zu sprechen. Die meisten Fragen, mit denen sich die Aufklärer auf der Suche nach dem Ursprung der Menschheit auseinandersetzten, waren vor dem Hintergrund des damaligen Kenntnisstandes legitim und widersprachen nicht dem universalistischen weltbürgerlichen Anspruch. Afrika nahm – im Gegensatz zum oft hoch geschätzten Asien20 – in den Vorstellungen der Aufklärer einen untergeordneten Stellenwert ein, weil keine zivilisatorischen Errungenschaften oder fortgeschrittenen staatlichen Strukturen zu beobachten waren, an denen die Aufklärung interessiert war. Vor diesem Hintergrund müssen die stark umstrittenen Rassenschriften von Immanuel Kant (1724–1804) gesehen werden, die häufig als Beleg für die rassistische Dimension der Aufklärung herangezogen werden. Demgegenüber betont Christian Geulen, dass Kant der erste Autor gewesen sei, der die verstreuten und wenig konsistenten Gedanken der Aufklärer und Naturforscher zum Thema Rasse zu systematisieren versucht habe, um gleichzeitig ihre begrenzte Reichweite aufzuzeigen.21 Die Kontroverse um die genaue Stellung von Kant in der Entwicklung von rassischen Perzeptionen ist derzeit offen.

Demgegenüber haben David Bindman und George L. Mosse vor allem die Entwicklung von neuen ästhetischen Vorstellungen am Ende des 18. Jahrhunderts für die Entstehung von Rassenvorstellungen verantwortlich gemacht.22 Hierzu gehörte die Wiederentdeckung des antiken griechischen Schönheitsideals, dem einige Völker mehr, andere überhaupt nicht zu entsprechen schienen. Dies ging einher mit dem Streben nach Harmonie, und die klassische Schönheit symbolisierte die vollkommene menschliche Form, die auch mit dem vollkommenen menschlichen Geist assoziiert wurde. Moral, Geschmack und Ästhetik wurden am Ende des 18. Jahrhunderts in den europäischen Oberschichten derart dominant debattiert, dass der Schwarzafrikaner und der Eskimo fast zwangsläufig zum vollständigen Gegenbild wurden. Ferner herrschte zeitweise ein Kult der "weißen" Haut als Distinktionsmerkmal, mit der sich der nicht-arbeitende Adel von der übrigen Bevölkerung abgrenzte. Allerdings wäre es verfehlt, aus dieser Denkweise eine kausale Linie in das moderne rassistische Denken zu ziehen, weil auch hier Autoren oft die Meinung vertraten, der Afrikaner sei genau wie der Europäer bildungs- und entwicklungsfähig.

Scharfe rassistische Äußerungen blieben Ende des 18. Jahrhunderts die Ausnahme. Das lässt sich an dem hasserfüllten Pamphlet des Göttinger Philosophen Christoph Meiners (1747–1810) über die Natur des afrikanischen "Negers" zeigen, das 1790 publiziert wurde. Meiners präsentierte ein Sammelsurium von Vorurteilen, primitiven hierarchischen Weltbildern, Rechtfertigungen der Sklaverei und – an anderer Stelle – antisemitische Tiraden. Er war einerseits unstrittig ein früher Rassentheoretiker, der Argumentationen des Rassismus des späten 19. Jahrhunderts vorwegnahm. Andererseits war er Ende des 18. Jahrhunderts bereits als wenig gehaltvoller Vielschreiber vollständig diskreditiert, und seine Arbeiten wurden kaum rezipiert bzw. stießen in der Gelehrtenwelt auf vehementen Widerspruch und wurden als unwissenschaftliche Borniertheiten verworfen.23

Dennoch änderte sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die europäische Perzeption anderer Völker. Zuvor waren die Chinesen und andere Ostasiaten durchweg als "weiß" definiert worden, während sie nun zunehmend als "gelb" wahrgenommen wurden.24 Zudem wuchs – bedingt durch den verstärkten Kolonialismus – seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa ein grundsätzliches Gefühl der Überlegenheit anderen Völkern und Kulturen gegenüber. Im Zusammenhang mit dem beginnenden Nationalismus entstanden in vielen europäischen Staaten Mythen, die sich später rassisch exklusiv interpretieren ließen. Hierzu gehörten die Frankenlegende oder die – allerdings in ihrer zeitgenössischen Wirkung häufig weit überschätzten – Schriften des "Grafen" Arthur de Gobineau (1816–1882), die aus reaktionärer Perspektive ständische Unterschiede als unveränderbare rassische Merkmale postulierten.

Rassentheorien als Rechtfertigungsideologien

Im Zusammenhang mit der Abschaffung des transatlantischen Sklavenhandels und der Sklaverei innerhalb des britischen Empires gerieten Sklavenhalter in den USA zunehmend unter Druck von teils humanitär, teils religiös motivierten Reformern.DIGITAL ID: (digital file from b&w film copy neg. of detail of man and banner) cph 3a44497, LCCN Permalink: http://lccn.loc.gov/2008661312  Library of Congress Deshalb wurde nach Argumenten für die Rechtfertigung der Sklaverei gesucht, und rassistische Theorien boten eine attraktive Begründung. Die angebliche Infantilität des Afrikaners wurde teilweise aus der Bibel hergeleitet, teilweise mit neuartigen naturwissenschaftlichen Interpretationsmustern kategorisiert. Auch wurde die angeblich patriarchalische Seite der Sklaverei mit der These verteidigt, Sklaverei sei positiv für den Farbigen. Zum abschreckenden Beispiel wurden die Entwicklungen auf Haiti stilisiert: Auf der ehemals wohlhabenden französischen Zuckerinsel hatte bis zur Französischen Revolution eines der weltweit brutalsten Sklavereiregime geherrscht, doch dann war in mehrjährigen Aufständen und Kriegen die Unabhängigkeit der Insel erkämpft und die erste rein farbige Republik geschaffen worden, die allerdings bald zu einer faktischen Diktatur degenerierte. Der Preis für die Unabhängigkeit bestand in der fast völligen Zerstörung der Insel, die zum Armenhaus der Karibik herabsank. Dies lieferte den Befürwortern der Rassensklaverei einiges an argumentativer Munition.

Die Rassentheorien in Amerika reagierten direkt auf die Argumente der wachsenden Antisklavereibewegung. Der reaktive Charakter fällt besonders auf, wenn die Entwicklung in den USA mit derjenigen in den südafrikanischen Burenrepubliken verglichen wird. Hier war die Rassensklaverei offiziell zwar abgeschafft, auf vielen Farmen bestanden aber weiterhin sklavereiähnliche Zustände. Da in den Burenrepubliken die Unfreiheit farbiger Afrikaner kaum kritisiert wurde, entwickelten sich auch kaum Theorien, die die bestehende rassische Gesellschaftsordnung rechtfertigten. Erst nach dem Ende des Burenkrieges zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden theoretische Konzepte, die auf eine strikte Rassentrennung, die spätere Apartheid, abzielten.25 Seinen Höhepunkt erreichte der Rassismus im Süden der USA nicht während des Zeitalters der Sklaverei, sondern nach dem Ende des Bürgerkrieges, als alle Sklaven befreit waren.26 Die Periode der "reconstruction" wurde von einem extrem gewaltbereiten Rassismus begleitet. Terrororganisationen wie der Ku Klux Klan,Parade des Ku Klux Klan in Washington, USA, schwarz-weiß Photographie, 13. September 1926, LoC von Weißen begangene Lynchmorde an FarbigenDIGITAL ID: (digital file from original) npcc 12928 http://hdl.loc.gov/loc.pnp/npcc.12928  Library of Congress und ein hohes Maß an alltäglicher Gewalt prägten das Leben in den Südstaaten. Hinzu kamen zahlreiche Maßnahmen, die auf gesetzliche Weise Afroamerikaner scharf diskriminierten, von politischen Rechten und von jeder Bildung ausschlossen, wo immer dies möglich war.

Eine weitere zentrale Quelle für die Entstehung des modernen Rassismus ergab sich aus der gesteigerten Expansion der europäischen Kolonialmächte im Zeitalter des Imperialismus. Da die Europäer scheinbar mühelos einen großen Teil der Welt unterwarfen, schien die Annahme einer natürlichen Überlegenheit nahe zu liegen. Allerdings wäre es verfehlt, die gesamte Periode des Imperialismus nur aus der Perspektive des Rassismus zu betrachten, weil stets auch konkurrierende Konzepte bestanden. Beispielsweise gingen die Thesen von einer europäischen Zivilisierungsmission davon aus, dass viele Völker derzeit unterlegen seien und europäische Hilfe benötigten, dass sie aber durchaus in der Lage wären, in einer fernen Zukunft jenseits des Kolonialismus ihren eigenständigen Weg zu gehen. Diese Vorstellung einer Zivilisierungsmission fand sich häufig in Frankreich und verbunden mit der Freihandelsideologie war sie charakteristisch auch für die Rechtfertigung von Herrschaft im britischen Empire.27 Dennoch trug die Erwerbung von Kolonien in allen europäischen Metropolen zu einem Aufstieg rassischer Vorstellungen bei. In vielen Kolonien in Afrika und Asien wurden die Indigenen auch ohne explizite Rassentheorien faktisch zu Menschen zweiter Klasse herabgestuft. Dies war nicht nur in der politischen und ökonomischen Realität, sondern auch auf der sozialen und symbolischen Ebene sichtbar: Beispielsweise errichteten Europäer mit der Begründung der präventiven Seuchenhygiene ihre eigenen, besseren und abgeschotteten Wohnviertel.

Die Biologisierung der Welt

Die entscheidende Zäsur in der Geschichte des modernen Rassismus stellt die biologische Revolution dar, die untrennbar mit dem Namen Charles Darwin (1809–1882) verbunden ist und die zu einem enormen Aufstieg von Rassentheorien führte. Darwin selbst war kein Rassist und scheint die möglichen gefährlichen Konsequenzen seiner Evolutionstheorie gesehen zu haben. Dennoch wurde der Sozialdarwinismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa und der gesamten westlich geprägten Welt zu einer dominanten Weltanschauung. Seine Attraktivität beruhte darauf, dass er gesellschaftliche Phänomene scheinbar widerspruchsfrei auf naturwissenschaftliche Weise erklären konnte, die ansonsten unverständlich gewesen wären.

Eine Folge der biologischen Interpretation von Sozialbeziehungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts stellte die Eugenik dar, die eng mit der Entstehung von neuartigen rassischen Stereotypen zusammenhing. Sie beruhte auf der Beobachtung, dass bestimmte Krankheiten offensichtlich erblich bedingt waren und sich deshalb durch gezielte erbbiologische Maßnahmen die Qualität eines gesamten Volkes deutlich verbessern ließ. Das gleiche galt, wenn bestimmte "minderwertige" Gruppen von Menschen an der Fortpflanzung gehindert würden. Im Widerspruch zu der Annahme des "survival of the fittest" stand jedoch die Beobachtung, dass im Sinne der Eugeniker sich die "Falschen" stärker als die "Richtigen" vermehrten, das heißt unerwünschte Unterschichten oder Völker, die im biologischen Sinne als unterlegen angesehen wurden. Hieraus wurde eine theoretische Konsequenz gezogen, die nachhaltige Wirkungen im 20. Jahrhundert haben sollten. Offensichtlich schien in den westlichen Gesellschaften die natürliche Selektion durch den zivilisatorischen Prozess und durch staatliche Regulierung außer Kraft gesetzt worden zu sein, so dass sich die Volksqualität in dramatischer Weise zu verschlechtern drohte. Daraus wurde eine pessimistische Konsequenz gezogen, weil der individuelle Prozess von Aufstieg und Niedergang auf ganze Völker bzw. auf das internationale System übertragen wurde. Der Kampf ums Dasein spielte sich in dieser Weltsicht – je nach individueller Perspektive – nicht nur zwischen Gattungen und Arten im Tierreich, sondern auch zwischen Völkern, Nationen und eben Rassen ab.28

Der Aufstieg des Sozialdarwinismus war deshalb eng verbunden mit dem wachsenden Nationalismus, der im 19. Jahrhundert ganz Europa erfasste. Nationen, Völker und Staaten wurden zunehmend als Subjekte betrachtet, die sich – gemäß ihrer jeweiligen Charakteristik – ihren Platz in der Welt erkämpfen mussten oder einem unausweichlichen Niedergang entgegensahen. Ohne dass dies in jedem Einzelfall deutlich wäre, gingen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sozialdarwinistische Perzeptionen, rassische Überlegenheitsträume und imperialistische Ambitionen in allen europäischen Metropolen eine fast untrennbare Verbindung ein.

Antisemitismus war in allen europäischen Gesellschaften des späten 19. Jahrhunderts präsent und erlebte in der Folge der Popularisierung der darwinistischen Gedanken einen erheblichen Aufschwung. Vor allem in Osteuropa (Russland, Rumänien) bestanden demgegenüber traditionelle Formen von Judenfeindschaft weiter. In West- und Mitteleuropa wurden – mit der Ausnahme Englands – ältere antijüdische, teilweise christlich gespeiste Vorurteile mit neuartigen rassisch argumentierenden Vorstellungen zunehmend kombiniert. Diese Mischung lässt sich in Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts beobachten, als die Affäre um Hauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935) die Republik fast an den Rand des Abgrundes brachte. Die Tatsache, dass der jüdische Hauptmann fälschlicherweise wegen Spionage verurteilt wurde, steht hierbei nicht so sehr im Mittelpunkt des Interesses, sondern vielmehr die Reaktionen von Teilen der französischen Öffentlichkeit auf die Rehabilitierungsbemühungen, die zunächst von einer kleinen Gruppe republikanischer Intellektueller betrieben wurden. Die Gegner von Dreyfus mobilisierten das gesamte Arsenal antisemitischer religiöser und naturwissenschaftlich-rassischer Begründungen. Mittelfristig unterlagen sie jedoch und die Republik ging gestärkt aus dieser Auseinandersetzung hervor.

Offener rassischer Antisemitismus im Deutschen Reich war demgegenüber vor 1914 seltener und trat in subtileren Formen auf. Zwar waren ungetaufte Juden juristisch gleichgestellt, erhebliche Einschränkungen gab es aber beim Zugang zum Offizierskorps und zu vielen studentischen Verbindungen. Der Berliner Antisemitismusstreit, der von dem Historiker Heinrich von Treitschke (1834–1896) ausgelöst wurde, zeigte, dass rassistische Gedanken innerhalb der universitären Eliten Fuß gefasst hatten. Andere, eher esoterische Vorstellungen bestanden im Kreis um Richard Wagner (1813–1883). Ferner übernahm der imperialistische Alldeutsche Verband um die Jahrhundertwende den Antisemitismus in sein argumentatives Repertoire, um seine Attraktivität zu erhöhen. Die relative Erfolglosigkeit der Stoecker-Bewegung und anderer antisemitischer Parteien zeigte jedoch zugleich die Grenzen auf, die einem politisch organisierten Antisemitismus im Kaiserreich gesetzt waren.

Eine Zäsur in der Geschichte des Rassismus in seiner antisemitischen Variante in Deutschland stellt der Erste Weltkrieg dar. Der Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit brachten einen  starken Aufschwung von rassistischen, offen antisemitischen und völkischen Gruppierungen, die lautstark die Dolchstoßlegende propagierten und einen offenen Radauantisemitismus predigten.29 Die völkischen und nationalsozialistischen Ideologien formten niemals ein konsistentes Weltbild, sondern kombinierten primitive rassistische Vorurteile mit kaum rationalisierbaren, pathologischen Hassvorstellungen.http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-R70355,_Berlin,_Boykott_j%C3%BCdischer_Gesch%C3%A4fte.jpg Bundesarchiv; lizensiert unter Creative Commons Attribution ShareAlike 3.0 Germany License Zugleich zog die nationalsozialistische Ideologie die letzte Konsequenz des Sozialdarwinismus, denn die ersten Opfer der kommenden Völkermorde waren Behinderte und Geisteskranke, die in der Euthanasie-Aktion als lebensunwertes Leben definiert wurden.

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, den Völkermord an den europäischen Juden und die noch weit umfangreicheren Programme für systematischen Massenmord im Osten wiki commons, Bundesarchiv, lizensiert unter Creative Commons Attribution ShareAlike 3.0 Germany License auf ökonomische Sachzwänge zurückzuführen.30 Auch wenn die "Arisierungen" in Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg und die Ausplünderung der Juden nach dem Beginn des Holocausts ohne Zweifel einen Bestandteil des Genozides darstellten, war dies aus der Perspektive des nationalsozialistischen Regimes eher eine erwünschte Begleiterscheinung. Der Völkermord stellte "Rassismus im Berserkergang" dar.31

Rassismus heute

Seit dem Zweiten Weltkrieg ist Rassismus in der gesamten westlichen Welt vordergründig auf dem Rückzug. Nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands, des rassistischsten Systems der Weltgeschichte, existierte offener Rassismus nur noch in Südafrika. Die südafrikanische Apartheid wurde 1948 eingeführt, obwohl sie faktisch schon vor dem Ersten Weltkrieg bestand. Sie war nach 1945 weltweit das einzige Gesellschaftssystem, das offiziell auf der Rassentrennung basierte. Die faktische Rassentrennung, die bis in die 1960er Jahre in einigen der Südstaaten der USA aufrecht erhalten wurde, ist seitdem kontinuierlich rückläufig. In der westlichen Welt ist in den Eliten seit den späten 1960er Jahren offener Rassismus kaum noch zu finden, und alltäglicher Rassismus ist zu einem Unterschichtenphänomen geworden, das zudem häufig bekämpft wird.

Allerdings sprechen einige Indizien dafür, dass Rassismus in gewandelter Form nach wie vor auftreten kann. Zu Beginn der 1990er Jahre propagierten extremistische Organisationen wie Hutu-Power in Ruanda offen rassistische Vorstellungen, die in ihrer Primitivität und Radikalität an den Nationalsozialismus erinnerten und die zum Völkermord an den Tutsi beitrugen. Auch in einigen Versionen des islamischen Fundamentalismus scheinen über den offenen Antisemitismus hinaus bisher nur wenig erforschte weitere rassistische Elemente zu bestehen. Diskriminierungen, die sich in vielen Ländern gegen bestimmte ethnische, religiöse oder sprachliche Gruppen richten, sollten allerdings nicht – wie umgangssprachlich häufig – einfach mit Rassismus gleichgesetzt werden, da meist nicht mehr mit unveränderbaren Merkmalen der Abstammung, sondern kulturalistisch argumentiert wird.

Die Geschichte des Rassismus bietet nach wie vor ein breites Feld für künftige Forschungen. Besonders Gender-Perspektiven, die sich in allen rassistischen Vorstellungen und Gesellschaftssystemen fanden, sind erst seit kurzem in den Fokus der Analyse geraten und bieten erhebliches Potential für zukünftige Fragestellungen. Ferner zeichnet sich international ein Trend in Richtung auf kulturalistische und diskurstheoretische Studien ab, deren Erträge sich allerdings noch nicht genau abschätzen lassen.

Boris Barth

Anhang

Quellen

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Literatur

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Anmerkungen

  1. ^ Eine umfassende Definition bei Memmi, Rassismus 1987.
  2. ^ Vgl. z.B. Mosse, Rassismus 2006, S. 23.
  3. ^ Vgl. von zur Mühlen, Rassenideologien 1977, S. 18f.
  4. ^ Vgl. Snowden, Color Prejudice 1983.
  5. ^ Zur Stellung der Juden vgl. die entsprechenden Kapitel bei Poliakov, Antisemitismus 1977, vol. I und 1978, vol. II.
  6. ^ Vgl. Martin, Schwarze Teufel 2001, S. 303–327.
  7. ^ Zu den Autoren, die annehmen, Rassenvorurteile hätten die Sklaverei bedingt, vgl. Toplin, Introduction, in: Toplin, Slavery and Race 1974, S. 5f.; Allen, Invention 1994, vol. 1, S. 6. Für Eric Williams und weitere Autoren war Rassismus hingegen die Konsequenz einer sich verschärfenden ökonomischen Disparität zwischen Schwarzen und Weißen, vgl. Boxill, Introduction, in: Boxill, Race 2001, S. 3f.; Bowser, The Global Community, in: Bowser, Racism 1995, S. XVII; Postma, Dutch 1990, S. 259.
  8. ^ Aus der reichhaltigen Literatur einführend: Klein, Slave Trade 1999.
  9. ^ Vgl. Chance, Race and Class 1978.
  10. ^ Die Kontroverse um die Unterschiede zwischen dem spanischen und dem britischen Kolonialreich und um die jeweiligen religiösen Motive begann mit Tannenbaum, Slave 1946.
  11. ^ Vgl. Malcomson, One drop of blood 2000; Wood, American Slavery 1997; Oakes, Ruling Race 1982; Higginbotham, Matter of Color 1978; Morgan, American Slavery 1975.
  12. ^ Vgl. Barth, Zivilisierungsmission 2005, S. 201–228.
  13. ^ Zur "limpieza de sangre" vgl. einführend die entsprechenden Kapitel bei Poliakov, Antisemitismus 1981, vol IV; ferner Pietschmann, Staat 1980, S. 36 und 48; anschauliche Beispiele bei Torres, Rassismus 2006.
  14. ^ Zur "great chain of being" immer noch: Lovejoy, Kette 1985.
  15. ^ Vgl. im Detail: Martin, Schwarze Teufel 2001, S. 205f. und 271; Poliakov, Mythos 1977, S. 174f.; Oehler-Klein, Einleitung, in: Soemmering, Verschiedenheit 1998, S. 67.
  16. ^ Vgl. Mayr, Gedankenwelt 1984, S. 82f.
  17. ^ Zu Camper und seiner Wirkung mit abweichender Bewertung vgl. Mosse, Rassismus 2006, S. 47–54.
  18. ^ Vgl. Arendt, Elemente und Ursprünge 1996, S. 355f.
  19. ^ Vgl. Blumenbach, Verschiedenheiten 2001.
  20. ^ Zu Asien vgl. Osterhammel, Entzauberung 1998.
  21. ^ Vgl. Geulen, Rassismus 2007, S. 59.
  22. ^ Vgl. Bindman, Ape to Apollo 2002; Mosse, Rassismus 2006, S. 8f. und 49.
  23. ^ Vgl. Meiners, Neger 2000, S. 67–77.
  24. ^ Vgl. Demel, Chinesen 1992.
  25. ^ Zu den Burenrepubliken vgl. Fredrickson, White Supremacy 1981; Marx, Ochsenwagen 1998.
  26. ^ Vgl. Fredrickson, Rassismus 2004, S. 101.
  27. ^ Vgl. Barth / Osterhammel, Zivilisierungsmissionen 2005; Kiernan, Lords 1986; Eldridge, England's Mission 1973.
  28. ^ Vgl. Grosse, Eugenik 2000; Kappeler, Traum 2000; Hawkins, Social Darwinism 1997.
  29. ^ Vgl. die entsprechenden Kapitel bei Barth, Dolchstoßlegenden 2003.
  30. ^ Vgl. z.B. Gerlach, Völkermord 1998; Aly, "Endlösung" 1995.
  31. ^ Browning, Path to Genocide 1992, S. 85.

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