EGO | Europäische Geschichte Online – eine transkulturelle Geschichte Europas im Internet@Einführung@
Originalbeitrag
Zielsetzung (Joachim Berger)
EGO im Überblick
Europäische Geschichte Online ist eine Geschichte Europas in der Neuzeit unter dem Blickwinkel von Kommunikation und Transfer. Die über 200 Beiträge, die online im Open Access auf deutsch und englisch publiziert werden, sind zehn Themensträngen (Threads) zugeordnet: Theorien und Methoden stellen zentrale methodisch-theoretische Zugänge zu einer transkulturellen Geschichte Europas vor. Hintergründe behandeln Faktoren und Akteure, die Europa als Kommunikationsraum entscheidend bestimmten. Sie klären Voraussetzungen und Bedingungen von Transferprozessen. Crossroads sind Kontakt- und Konfliktzonen, in denen sich Kommunikation verdichtet und die Schwellen für Transferprozesse bilden (z.B. Grenzregionen). Modelle und Stereotypen umreißen Zuschreibungen und Bilder, die über die Jahrhunderte hinweg in Europa mit bestimmten Räumen verbunden wurden, vom Modell Antike bis zum Modell Amerika. Europa unterwegs stellt den Beitrag von Migranten und Reisenden zu interkulturellen Transferprozessen in den Mittelpunkt. Der Themenstrang Europäische Medien verfolgt, wie unterschiedliche Medientypen die Inhalte von Transfers vermittelten und veränderten. Ein Schwerpunkt liegt auf europäischen Medienereignissen, die gesamtgesellschaftliche und europaweite Debatten auslösten. Mit Europäischen Netzwerken werden personale Beziehungsgeflechte dargestellt, in denen durch regelmäßigen Austausch Ideen, Techniken und Praktiken transferiert wurden. Transnationale Bewegungen und Organisationen wirkten über nationale, religiöse oder wirtschaftliche Grenzen hinweg und entwickelten eigene Programmatiken und Strukturen. Militärische Siege und Niederlagen als Folge von Bündnissen und Kriegen veränderten die europäischen Gesellschaften grundlegend: Sie riefen Abwehrreaktionen hervor, lösten aber auch Lernprozesse aus. Konflikt und Austausch prägten auch die Verflechtungen Europas mit der außereuropäischen Welt: Der Themenstrang Europa und die Welt geht der Frage nach, wie "europäisch" die Geschichte Europas eigentlich war.
Europäische Geschichte Online konzentriert sich also auf Prozesse von Kommunikation, Interaktion und Verflechtung. Im Zentrum stehen Transferprozesse, die über den individuellen, familiären oder lokalen Bereich hinausreichen und längerfristige Wirkung erlangen. Diese Transferprozesse verfolgt EGO unter anderem in den Bereichen von Religion, Recht, Politik, Kunst, Musik, Literatur, Wirtschaft, Technik und Militär, Wissenschaften und Medizin. Von einem Transfer ist dann die Rede, wenn sich Personen, Objekte und Ideen zwischen verschiedenen Kulturen (Deutungssystemen) bewegen und dadurch verändern. Dabei interessiert vor allem der Prozesscharakter dieser Transfers, der anschaulich macht, wie bestimmte Transferinhalte zwischen Ausgangs- und Zielsystemen unter Einwirkung von Mittlerinstanzen umgeformt, neu interpretiert oder zurückgewiesen werden.
Dementsprechend liegen den Themen und den einzelnen Beiträgen von Europäische Geschichte Online drei Leitfragen zugrunde:
1. die Frage nach den Transferinhalten, also den Objekten, Ideen, Diskursen und Praktiken, die aus dem jeweiligen "Ausgangssystem" in den Transferprozess eingehen;
2. die Frage nach der Rolle und Funktion der Mittlerinstanzen, also bestimmter Medien und Personen ("Agenten");
3. die Frage nach den Formen und Kriterien für Aneignung oder Abwehr im jeweiligen Zielsystem.
Die Themenstränge ordnen bestimmte Beiträge in einer modularen Struktur unter einem thematischen und methodischen Zugriff an. Ihr Zuschnitt ist transdisziplinär und multithematisch; sie führen also die Perspektiven verschiedener historisch arbeitender Disziplinen und ihrer internationalen Autoren zusammen. Sie sind zudem diachron angelegt, das heißt, sie behandeln Phänomene, welche – mit bestimmten Entwicklungsschüben und Verdichtungen – prinzipiell in der gesamten europäischen Neuzeit zu beobachten sind. Die zehn Themenstränge bilden drei unterschiedliche, miteinander verwobene Perspektiven auf Europa und seine Kommunikationsbeziehungen ab:
1. Zwei Themenstränge erschließen die Transferprozesse vor allem über Raumvorstellungen, die sich mit zeitgenössischen Wahrnehmungen und Zuschreibungen verbinden (Themenstränge Crossroads sowie Modelle und Stereotypen).
2. Drei Themenstränge setzen bei Medien und "Agenten" an. Diese bringen Transfers auf den Weg, tragen sie weiter oder blockieren sie. Dadurch verändern sie die transferierten Inhalte (Themenstränge Europa unterwegs, Europäische Medien sowie Europäische Netzwerke).
3. Drei Themenstränge nehmen Transferprozesse vor allem über übergeordnete Transfersysteme in den Blick. In diesen wirken Mittler in Strukturen zusammen, denen sie einen gemeinschaftsstiftenden Deutungszusammenhang verleihen (Themenstränge Transnationale Bewegungen und Organisationen, Bündnisse und Kriege sowie Europa und die Welt).
Vorgeschaltet sind zwei Themenstränge, die grundlegende Voraussetzungen im Methodischen und Inhaltlichen liefern (Themenstränge Theorien und Methoden sowie Hintergründe).
Jeder Themenstrang bildet eine modulare Struktur aus drei Beitragstypen: Überblicke, Basiselemente und Vertiefungselemente. Überblicke stecken ein bestimmtes Forschungsfeld ab, stellen allgemeine Voraussetzungen und Bedingungen von Transferprozessen dar und ermöglichen so eine Kontextualisierung von Faktoren und Ergebnissen. Den Überblicken sind Basiselemente zugeordnet. Sie beschreiben und analysieren einen bestimmten Transferprozess von europäischer Relevanz. Behandelt werden – in unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen – Voraussetzungen, Hintergründe und Bedingungen des jeweiligen Transferprozesses; die Interaktion zwischen einem oder mehreren Ausgangs- und Zielsystem(en); Inhalte bzw. Objekte der Kommunikation oder des Transfers; Agenten und Medien des Transfers. Vertiefungselemente nehmen einen bestimmten Aspekt des Transfers näher in den Blick, beleuchten spezifische Voraussetzungen und Bedingungen von Transfer oder stellen einzelne Agenten und Medien des Transfers vor.
EINE transkulturelle Geschichte Europas im Internet
EGO behandelt "Europa" nicht als eine gegebene geographische oder politische Größe. Denn seitdem Europa im späten 15. Jahrhundert in der Geschichtsschreibung als raumordnende Kategorie greifbar wird, waren seine geographischen Grenzen und die Merkmale, die Europa von anderen Erdteilen abgrenzen sollten, von den Wertvorstellungen derjenigen geprägt, die diese Kategorie "Europa" bejahten oder sich davon abgrenzten. Was man unter Europa verstand und wie man es sich idealerweise vorstellte, war immer Ergebnis einer Verständigung über das "Europäische". Europäische Geschichte Online versteht Europa als Kommunikationsraum, dessen Grenzen, Zentren und Peripherien an die jeweiligen zeitlich-thematischen Zusammenhänge gebunden sind. Das übergeordnete Erkenntnisinteresse von Europäische Geschichte Online besteht darin, diese zeitgenössischen Kontexte zu rekonstruieren. In ihrer Mehrstimmigkeit und Gegenläufigkeit widersetzen sie sich statischen Europabildern, welche den Anspruch erheben, die "Essenz" oder eine zwangsläufige bzw. notwendige Entwicklung Europas zu repräsentieren.
Europäische Geschichte Online wählt den Ansatz, eine Geschichte Europas unter dem Blickwinkel von Kommunikation und Transfer zu erzählen. Unter dieser Perspektive sollen die menschlichen Denkformen und Lebensweisen, die in ihrer Gesamtheit "das" Europa der Neuzeit ausmachen, gleichberechtigt dargestellt werden. Weder die politischen Entwicklungen noch die religiösen Konturen oder die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen werden a priori als besonders prägend für die Gestalt Europas ausgegeben. Die Vielzahl transkultureller Prozesse in ihren unterschiedlichen Graden der Verflechtung lassen sich freilich nicht vollständig darstellen. Die EGO-Themenstränge bilden daher jeweils bestimmte Kommunikationsverdichtungen in der europäischen Geschichte ab. Dadurch lassen sich die Leitfragen (nach Transferinhalten, Mittlerinstanzen sowie Formen und Kriterien für Aneignung und Abwehr) systematisch analysieren und vergleichen. Jeweils für und in sich enthalten die Themenstränge Elemente der großen Entwicklungsmodelle (z.B. Konfessionalisierung, Säkularisierung, Kolonialisierung, Globalisierung). Doch EGO ermöglicht seinen Nutzern, selbst zeitliche, räumliche und thematische Schnitte zu legen. Aus dieser Gesamtschau können sie auch solche "Knotenpunkte" der Geschichte Europas erkennen, die bisher nicht als solche erkannt worden sind.
EGO wählt keinen der ordnenden Zugriffe, welche die historisch arbeitenden Wissenschaften üblicherweise zur Darstellung "der" Geschichte Europas wählen: EGO versteht europäische Geschichte weder als Summe von Nationalgeschichten noch als Synthese gesamteuropäischer Strukturelemente oder als Kombination von beidem. EGO stellt die Geschichte Europas auch nicht als Abfolge geistes-, form- und stilgeschichtlicher Entwicklungsschübe dar. Diese Zugriffe, die jeweils von bestimmten Fachdisziplinen bevorzugt werden, haben selbstverständlich ihre Berechtigung und Plausibilität. Europäische Geschichte Online soll aber nicht die neue "Meistererzählung" einer stetig zunehmenden Kommunikationsdichte in Europa etablieren, infolge derer die jahrhundertelangen Konflikte der Europäer schließlich in der Europäischen Union befriedet worden seien. EGO gibt nicht vor, einen narrativen Königsweg gefunden zu haben, wie man europäische Geschichte zu schreiben habe. Die bestehenden Zugriffe sollen vielmehr um eine bislang unterrepräsentierte, transkulturelle Perspektive ergänzt werden.
Eine TRANSKULTURELLE Geschichte Europas im Internet
Der Begriff des "Transkulturellen" wird in den historisch arbeitenden Wissenschaften nicht einheitlich gebraucht. EGO versteht "Kultur" nicht im umfassenden, ganzheitlichen Sinn, indem etwa der "Kulturraum" Europa als Kern der (westlichen) Zivilisation von nichteuropäischen "Kulturräumen" abgegrenzt würde. "Kultur" wird auch nicht als ein von Religion, Politik, Wirtschaft etc. getrennter Sektor aufgefasst. Schließlich verwendet EGO auch keinen elitären Kulturbegriff, der mit Künsten und Wissenschaften (der "Hochkultur") gleichgesetzt wird. "Kultur" meint vielmehr verschiedene Referenzrahmen und Deutungssysteme, die häufig, aber nicht ausschließlich physisch-geographisch begrenzt sind. "Transkulturell" hat in Europäische Geschichte Online drei Dimensionen:
1. Das "Transkulturelle" differenziert und erweitert den Begriff des "Transnationalen" in zeitlicher, räumlicher und inhaltlicher Hinsicht. EGO behandelt den langen Zeitraum von etwa 1450 bis etwa 1950. Transnationale Phänomene werden hingegen in der Regel erst mit dem späteren 18. Jahrhundert angesetzt. EGO erweitert den Zugriff auf nicht-nationalstaatliche Grenzüberschreitungen – vor allem in der Frühen Neuzeit –, die sich an anderen Referenzrahmen orientieren, z.B. an kleineren geographischen Räumen wie den Regionen, oder an Deutungssystemen, die nicht primär physisch-geographisch zu orten sind, wie den Religionen und Konfessionen. Das Transkulturelle ist in diesem Sinn ein Oberbegriff für transnationale, transregionale, transkonfessionelle, transsprachliche, transethnische oder transrechtssystemische Prozesse.
2. Das "Transkulturelle" steht für den sektorenübergreifenden Anspruch von EGO. Jeder Themenstrang behandelt zeitliche, räumliche und inhaltliche Verflechtungen mehrerer Lebensbereiche bzw. Sektoren in der europäischen Geschichte – Verflechtungen zwischen Religion, Recht, Politik, Kunst, Musik, Literatur, Wirtschaft, Technik und Militär, Wissenschaften und Medizin. EGO führt diese traditionell getrennt behandelten Sektoren zusammen. Transkulturell ist hier als transsektoral zu verstehen.
3. Das "Transkulturelle" steht für die disziplinen- und länderübergreifende Zusammenarbeit von Autoren und Fachherausgebern mit ihren unterschiedlichen akademischen und nationalen Prägungen. Vor allem die Überblicke integrieren Perspektiven verschiedener Disziplinen (so behandelt Anglophilie die Vorbildfunktion, die England im späten 18. Jahrhundert in Bezug auf seine politische Verfasstheit zugeschrieben wurde, die aber auch für die Literatur, die Gartenkunst oder die Mode angenommen wurde). Je nach Autor ist dabei eine bestimmte Fachperspektive leitend, doch die Zusammenschau ermöglicht den Nutzern ein disziplinenübergreifendes Bild.
EGO stellt sich der Herausforderung, unterschiedliche disziplinäre Perspektiven in ihrem Eigenrecht zu belassen, doch diese unter dem übergreifenden Blickwinkel von Kommunikation und Transfer zusammenzuführen. Konkret bedeutet diese Zusammenführung, dass EGO-Beiträge – idealtypisch gesprochen –
a) die Akteursperspektive berücksichtigen, das heißt solche Mittler in Transferprozessen behandeln, welche Transferinhalte transportieren und verändern,
b) die Medialität von Transferprozessen reflektieren und
c) Akteure sowie Ausgangs- und Zielsysteme räumlich verorten.
EGO ist keine "Geschichte der Transferprozesse in Europa". Die vielfältigen Schattierungen von Begegnung, Diffusion, Austausch, Abwehr und Adaption in 500 Jahren europäischer Geschichte verlangen eine Palette methodischer Zugänge, die sich wechselseitig ergänzen. Drei zentrale Zugänge veranschaulichen diese Methodenvielfalt: So lässt sich die in den vergleichenden Literaturwissenschaften entwickelte Methode der transferts culturels besonders gewinnbringend auf transkulturelle Phänomene der Frühen Neuzeit anwenden. Mittels des historischen Vergleichs werden zunächst Ausgangs- und Zielsystem voneinander abgegrenzt. Zudem fungiert der Vergleich als Kontrollinstanz: Nur im synchronen und diachronen Vergleich mehrerer Transferprozesse lässt sich überhaupt "historischer Wandel" erkennen und erklären. Bereits für die Frühe Neuzeit sind Transfers kaum isoliert in Bezug auf zwei Staaten oder Regionen zu betrachten, ohne eine Vielzahl von Faktoren auszublenden. Im 19. Jahrhundert werden die Austauschprozesse noch komplexer und dichter. Während sich die Nationalstaaten verfestigen, nimmt die "globale" Verflechtung zahlreicher Lebensbereiche bzw. Sektoren zu. Deshalb wird für das 19. und 20. Jahrhundert die transnationale Perspektive wichtiger: Mit einer Untersuchung transnationaler Bewegungen und deren Agenten lassen sich multilaterale Transfers exemplarisch verorten und beschreiben.
EGO kann auf diese Weise Elemente traditionellerer Ansätze wie der Beziehungsgeschichte oder der Rezeptionsforschung integrieren und zugleich darüber hinausweisen: Es geht nie um die bloße "Aufnahme von Gedankengut" oder die simple "Übernahme von Techniken". Vielmehr zielt Europäische Geschichte Online darauf, wie Objekte, Diskurse und Praktiken zwischen verschiedenen Deutungssystemen zirkulierten, ausgetauscht und abgewehrt wurden, und wie sie sich dabei veränderten. Wenn der wichtige, eigenständige Beitrag der Mittler in den Transferprozessen beachtet wird, lassen sich diese Vorgänge differenzierter beschreiben, als es eine simple Gegenüberstellung von "Ursprung" und "Aufnahme/Empfang" leisten könnte.
Eine transkulturelle GESCHICHTE Europas im Internet
Europäische Geschichte Online behandelt die europäische Neuzeit vom Ausgang des Mittelalters bis in die Zeitgeschichte hinein, also den langen Zeitraum von etwa 1450 bis 1950. Dies ergibt sich nicht nur aus der wissenschaftlichen Ausrichtung des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte als herausgebender Institution, deren Forschungszeitraum im Jahrhundert vor den europäischen Reformationen einsetzt, sondern auch aus inhaltlichen Erwägungen. Tatsächlich sind im 15. Jahrhundert wesentliche Entwicklungen zu verorten, die für eine Geschichte Europas unter der Perspektive von Kommunikation und Transfer maßgeblich sind und deshalb einen Einschnitt rechtfertigen: Der Buchdruck mit beweglichen Lettern löst handschriftliche Reproduktionsverfahren durch drucktechnische ab und führt so zu einer entscheidenden Beschleunigung und Verdichtung der Kommunikation. Europa erholt sich nach den Pestepidemien demographisch und wirtschaftlich. Von Italien ausgehend, setzen intensive Transfers in Kunst, Literatur, Philosophie und Wirtschaft ein ("Renaissance"). Mit den portugiesischen und spanischen Erkundungsfahrten verstärkt sich das Ausgreifen Europas in die (übrige) Welt. Das Byzantinische Reich löst sich mit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen auf, die Mongolenherrschaft über weite Teile Osteuropas endet. Um eine überkommene, westeuropäisch und disziplinär geprägte Epochengliederung zu überwinden, versuchen Beiträge, die das 15./16. Jahrhundert behandeln, immer auch relevante Entwicklungen zu beachten, die in der Zeit vor 1450 einsetzten.
Dass EGO zeitlich um etwa 1950 ausläuft, hängt mit der dezidiert "historischen" Ausrichtung des Projekts zusammen: Die Analyse der vielfältigen Europäisierungsvorgänge, die nach 1950 begannen und in den wirtschaftlichen und politischen Integrationsprozess (zunächst Westeuropas) münden, ist nicht mehr Aufgabe von EGO. In EGO eine Vorgeschichte der Europäischen Union zu sehen wäre ein Missverständnis. Die Beiträge ziehen vielmehr Linien älterer Europäisierungsvorgänge nach, die sich weder auf ein politisches Projekt noch auf eine wirtschaftliche Struktur beziehen (wie zum Beispiel die humanistischen Netzwerke des 16. und 17. Jahrhunderts) oder die in eine ganz andere Richtung weisen, als sie die Geschichte Westeuropas nach 1950 nehmen sollte (zum Beispiel die Paneuropabewegungen der 1920er Jahre). Entwicklungen über die Mitte des 20. Jahrhunderts in die jüngste Zeitgeschichte hinein werden allerdings weiterverfolgt, wenn sie vor etwa 1950 einsetzten.
Eine transkulturelle Geschichte EUROPAS im Internet
Wer (eine) "europäische Geschichte" schreibt, läuft Gefahr, den Eurozentrismus in den Geisteswissenschaften zu verfestigen. "Europa" ist zweifellos eine problematische, normativ aufgeladene Kategorie, die zudem auf dem mentalen Horizont nur der wenigsten Zeitgenossen des 15. bis 19. Jahrhunderts auftauchte. Wer jedoch eurozentrische Geschichtskonzeptionen überwinden will, darf "Europa" als zeitgenössischen Referenzrahmen und als Kategorie der historisch arbeitenden Wissenschaften nicht ausblenden. Ein global- bzw. weltgeschichtlicher Rahmen kann lokale, regionale, nationale und eben auch europäische Perspektiven erweitern und bereichern. Ersetzen kann er sie nicht, zumal er eurozentrische Vorannahmen nicht automatisch beseitigt. Europäische Geschichte Online nimmt transnationale und postkoloniale Ansätze immer dort auf, wo es die jeweiligen "europäischen" Kontexte nahelegen. Ziel ist, die unterschiedlichen Bedeutungsschichten "Europas" in ihrer Zeit- und Raumgebundenheit offenzulegen. Dieser "reflexive Eurozentrismus" kommt in EGO wie folgt zum Tragen:
1. EGO-Beiträge fragen nach den Entwicklungspotentialen grenzüberschreitender Kommunikation in Europa. Abgrenzung, Konflikt und Krieg sind dieser Geschichte von Europäisierungsvorgängen eingeschrieben. Verlauf und Ergebnis von Transferprozessen waren oft nicht intentional steuerbar; Missverständnisse, abgebrochene oder verweigerte Kommunikation spielen eine zentrale Rolle.
2. Das kontextgebundene Europa-Verständnis von EGO rekonstruiert je nach Zeitraum, beteiligten Akteuren und Inhalten des Transfers einen jeweils anderen "europäischen" Kommunikationsraum. Ein Beispiel: Das Osmanische Reich war im Rahmen der frühneuzeitlichen Kriegs- und Friedensprozesse ein integraler Teil "europäischer" Kommunikationsbeziehungen. In andere kommunikative Zusammenhänge (z.B. Transfers in den bildenden Künsten) war es im selben Zeitraum jedoch nur marginal eingebunden. Das Verhältnis von "Zentren" und "Peripherien" in diesem Europa war dynamisch und verschob sich je nach Zusammenhang zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd. Die EGO-Beiträge in ihrer Gesamtschau zeigen, dass die Rede von einem "Kerneuropa" historisch zu kurz greift. Transatlantische, kaukasische oder fernöstliche Kommunikationszusammenhänge werden immer dann einbezogen, wenn sie für den jeweiligen Kontext aufschlussreich sind. Die Grenzen dessen, was als "europäisch" oder "außereuropäisch" erscheint, wurden stets neu gezogen.
3. EGO behandelt auch die vielfältigen Verbindungen zwischen Europa und der außereuropäischen Welt, insbesondere solche Kommunikations- und Transferprozesse, die Europa aus der außereuropäischen Welt aufnahm oder abwehrte. Im Themenstrang Europa und die Welt ist die Hypothese erkenntnisleitend, dass sich europäische Identitäten in Abgrenzung zur außereuropäischen Welt entwickelten und dass außereuropäische Konflikte nach Europa zurückwirkten. Diese Begegnungen mit dem "Anderen" veränderten die europäischen Gesellschaften selbst, und zwar nicht erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, als in vielen Sektoren ein "systemischer" Weltzusammenhang greifbar wird.
Eine transkulturelle Geschichte Europas im INTERNET
Eine Geschichte Europas im Internet zu publizieren bietet viele Vorteile. Zuallererst ist die weltweite, freie Zugänglichkeit zu nennen (Prinzip des "Open Access"). Inhaltliche Gesichtspunkte kommen hinzu: Die zehn Themenstränge gliedern die Geschichte Europas unter dem Blickwinkel von Kommunikation und Transfer. Diese Gliederung ermöglicht flexible Rezeptionsweisen: Anders als ein gedrucktes Buch hat Europäische Geschichte Online nicht einen Anfang und ein Ende. EGO trägt der Dynamik der Kommunikationsverdichtungen und der sich laufend verschiebenden Knotenpunkte in der europäischen Geschichte Rechnung, indem viele Beiträge mehrfach zugeordnet werden. So sind die Überblicke Entdeckung, Erforschung, Begegnung sowie Kolonialismus und Imperialismus sowohl im Themenstrang Hintergründe als auch in Europa und die Welt platziert. Diese Mehrfachzuordnungen zeigen inhaltliche Verflechtungen auf. So werden zum Beispiel Zusammenhänge zwischen religiös oder konfessionell konditionierter Migration (unter Europa unterwegs) mit den Netzwerkbildungen dieser religiösen oder konfessionellen Gruppierungen (unter Europäische Netzwerke) deutlich. Oder es lassen sich die graduellen Übergänge von losen Netzwerkbildungen zur Formierung transnationaler Bewegungen aufzeigen, etwa bei den Geheimgesellschaften oder beim Zionismus – Bewegungen, die eine eigene Programmatik und dauerhafte Organisationsformen entwickeln konnten (Themenstränge Europäische Netzwerke sowie Transnationale Bewegungen und Organisationen).
Das Format eines Online-Publikationssystems ist das ideale Medium, um die Komplexität und Dynamik der europäischen Kommunikationsbeziehungen und Transferprozesse angemessen abzubilden. Die unterschiedlichen Formen der Darstellung – Überblicke, Basiselemente, Vertiefungselemente – und ihre Anordnung in einer modularen Struktur erlauben differenzierte Kontextualisierungen. Zusätzlich zu den Mehrfachzuordnungen werden die EGO-Beiträge über Hyperlinks direkt miteinander verbunden: zur gezielten Informationserweiterung, -vertiefung und -verknüpfung. Ziel dieser Verknüpfungen ist es, bisher unbekannte Kommunikationsverdichtungen in der europäischen Geschichte freizulegen, neue transkulturelle Forschungen in den verschiedenen Disziplinen anzuregen und dadurch ein dynamischeres Verständnis europäischer Geschichte zu befördern. Die vielfältigen Suchfunktionen ermöglichen den Nutzern, sich eine eigene "Geschichte Europas" zusammenzustellen, die sich ihren individuellen Erkenntnisinteressen anpasst.
Der Medienwechsel, den Europäische Geschichte Online vollzieht, fordert das Konzept eines mehrbändigen gedruckten Überblickswerks heraus, das in der Regel 20 bis 50 Jahre auf eine Neuauflage warten muss. Dem dynamischen Europa-Verständnis entspricht eine dynamische Publikationsform: Die Beiträge können, je nach Fortgang der Forschung, aktualisiert werden, und das System kann sukzessive um neue Beiträge erweitert werden, um neuen Entwicklungen in der Forschung Rechnung zu tragen. Ältere Versionen eines Beitrags bleiben weiterhin zugänglich.
Auch Europäische Geschichte Online nutzt vorrangig Erzählung und Analyse in textlich-linearer Darstellung, um Transferprozesse in der europäischen Geschichte abzubilden. Darüber hinaus überführt EGO verschiedene Mediengattungen in einen – neuen – Deutungszusammenhang. Dazu schöpft EGO das multimediale Potential des Internets aus. Bild-, Ton- und Filmdokumente illustrieren nicht nur das Geschriebene, sondern erzählen mitunter ihre eigenen Transfergeschichten und ermöglichen neue Verknüpfungen. Das Transdisziplinäre von EGO stellt sich ganz wesentlich auch über die den unterschiedlichsten Textbeiträgen zugeordneten Bilder, Grafiken, Karten, Tabellen, Filmausschnitte und Tonaufnahmen her. Diese Vernetzungen erfolgen einerseits über interne Links zu Elementen, die innerhalb von EGO publiziert werden, andererseits über Links auf extern publiziertes Bildmaterial, digitalisierte oder anderweitig online publizierte Textquellen und Personennormdaten sowie – in den Anmerkungen – auf wissenschaftliche Literatur und weitere wissenschaftliche Online-Ressourcen. Das dynamische EGO-System führt somit das Angebot internationaler Online-Ressourcen zur europäischen Geschichte thematisch gebündelt zusammen.
Themenstränge (Jennifer Willenberg) und Beispiele (Lisa Landes)
Theorien und Methoden
Methodisch-theoretische Zugänge zu einer transkulturellen Geschichte Europas
"World history", "new global history", "connected", "shared" oder "entangled history", "transferts culturels" und "histoire croisée" – die Label, unter denen transkulturelle Perspektiven und Zugänge in der Forschung gefordert und diskutiert werden, sind zahlreich; die nun fast ein Vierteljahrhundert währende Debatte wird nach wie vor lebendig geführt. Dieser Themenstrang stellt zentrale Ansätze und Forschungsperspektiven im Hinblick auf eine transkulturelle Geschichte Europas vor: Kulturtransfer/histoire croisée, Transnationale Geschichte, Vergleichende Geschichte und postcolonial studies. Ergänzt werden diese Beiträge um Überlegungen zum Europabegriff, zur europäischen Geschichte und Geschichtsschreibung sowie zu räumlichen und ideengeschichtlichen Zugängen, die für Europäische Geschichte Online zentral sind.
So stellt ein Überblick den in der Osteuropäischen Geschichte entwickelten Forschungsansatz der Geschichtsregionen vor. Hier kommen nicht territorialisierte, aber epochengebundene historische Mesoregionen wie "Südosteuropa", "Eurasien" oder auch die "Schwarzmeerwelt" zur Sprache. Durch komparative Analysen werden Strukturmerkmale dieser Regionen ermittelt und verglichen. Hier ergibt sich ein Anknüpfungspunkt zu der im Überblick Vergleichende Geschichte diskutierten Methode.
Dass "Europa" von Anfang an eine imaginierte Einheit war, zeigt der Beitrag Europa: Kulturelle Referenz – Zitatensystem – Wertesystem. Er verfolgt, wie sich Begriff und Bild, das sich die Europäer von "Europa" machten, im Laufe der Zeiten wandelten: von der Christlichen Republik im 15. Jahrhundert bis hin zum Europa der EU, das sich ideell vor allem über gemeinsame Werte wie parlamentarische Demokratie sowie Menschen- und Freiheitsrechte definiert.
Hintergründe
Europa als Kommunikationsraum – Voraussetzungen und Hintergründe
Europa als Kommunikationsraum war und ist an Bedingungen geknüpft und von bestimmten grundlegenden Voraussetzungen abhängig. Dieser Themenstrang stellt in zweierlei Hinsicht die Hintergründe für Kommunikation und Transfer in der europäischen Geschichte vor: Zum einen fragt er danach, wie Faktoren wie Recht, Wirtschaft, Religion oder Politik Kommunikation und interkulturellen Transfer beeinflussen. Welche Voraussetzungen schaffen sie; welche Hindernisse errichten sie? Zum anderen umreißt er zentrale Voraussetzungen und Bedingungen für Kommunikation und Transfer: Mit welchen Mitteln reiste man? Wie entwickelten sich die Verkehrswege in Europa? Wie lange war man von Rom bis Stockholm unterwegs? Welche Medien standen für die europäische Öffentlichkeit bereit?
Grundlegend wird im Beitrag Recht darüber nachgedacht, welche Rolle das Recht als Bedingung, aber auch als Faktor des Transfers in Europa spielte. In der Frühen Neuzeit wurden theologisch legitimierte Rechtsvorstellungen des Mittelalters infrage gestellt; man fand neue Begründungen und neue Rechtsformen. Der Beitrag fragt nach Rechtsquellen, Rechtsanwendung, Rechtswissenschaft und anderen Stichpunkten in transfergeschichtlicher Perspektive.
Der Beitrag Buchmarkt fragt danach, wie der europäische Buchmarkt zu Kommunikation und Transfer beigetragen hat. Die Aufwertung der Volkssprachen durch die europäischen Reformationen öffnete ein neues, immenses Kommunikationsfeld, richtete aber auch Verständnisbarrieren auf. Sie wurden durch Übersetzungen ins Lateinische, die Lingua franca der Gelehrten und Gebildeten in Europa, überwunden. Von den Vorläufern in der Antike bis zur Frankfurter Buchmesse der Moderne werden so die Entwicklung des Buchmarkts und seine Bedeutung für europäische Transferprozesse nachgezeichnet.
Crossroads
Räume verdichteter Kommunikation
"Crossroads" meint den Ort, an dem sich zwei oder mehrere Straßen kreuzen, je nach Perspektive zusammenlaufen oder auseinandergehen. Demnach bezeichnet "Crossroads" sowohl einen zentralen Treffpunkt als auch die kritische Weggabelung. Die Beiträge dieses Themenstrangs sind an solchen "Wegkreuzungen" im ganz konkreten oder eher übertragenen Sinn angesiedelt und bieten einen räumlichen Zugang zu einer transkulturellen Geschichte Europas. "Raum" wird hier als "gemacht", mithin als ein Produkt von Konstruktionsprozessen, und relational, nämlich als kontext- und zeitgebunden, begriffen. "Raum" meint dabei immer auch Zonen des intensivierten Kontakts, der Konflikte beinhalten kann. Diese Bereiche, in denen sich zwei oder mehr Systeme begegnen, können sowohl Grenzregionen wie der Pyrenäenraum oder das Mittelmeer sein als auch wissenschaftliche, kulturelle bzw. politische Metropolen, in denen komplexe soziale, kulturelle und ökonomische Prozesse zusammenlaufen und sich gegenseitig beeinflussen.
Die Entwicklung und Verbreitung unterschiedlicher Rechte und Rechtsauffassungen ist einer der Faktoren, die nachhaltigen Einfluss auf die Ausprägung europäischer Räume hatten. Der Überblick Rechtsräume, Rechtskreise versucht, die Gesamtheit des Rechtsstoffs nach bestimmten Kriterien – Sprache, geographische Zugehörigkeit, politisches System, Religion – in größere Gruppen von Rechtsordnungen einzuteilen. In Europa werden verschiedene Rechtskreise ausgemacht: der romanische, der deutsche, der angloamerikanische, der skandinavische, die in jeweils eigenen Beiträgen ausführlicher dargestellt werden. Der Beitrag Deutscher Rechtskreis zum Beispiel zeichnet die Entwicklung des kontinentaleuropäischen, deutschsprachigen und typischerweise kodifizierten Rechts nach, das die Privatrechtsordnungen Deutschlands, der Schweiz und Österreichs dominiert und dessen Wurzeln im römisch-deutschen Recht liegen. Durch die Weiterentwicklungen bedeutender Rechtswissenschaftler des 19. Jahrhunderts und durch Kodifikationen wie das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1896 oder das schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) von 1907/1912 wirkte der deutsche Rechtskreis weit über die Grenzen Europas hinaus.
Modelle und Stereotypen
Modellbildungen und Stereotypen in interkulturellen Transferprozessen
Modellbildungen unterschiedlicher Dauer, Ausstrahlungskraft und Reichweite lassen sich in der europäischen Geschichte der Neuzeit immer wieder beobachten. Beginnend mit dem "Modell Antike" und dem "Modell Italien" in der Renaissance und endend mit dem "Modell Amerika", das bis weit in die Nachkriegszeit Wirksamkeit behielt, bietet dieser Themenstrang einen Durchgang durch 500 Jahre europäischer (Kultur-)Geschichte. "Modell" meint hier eine Repräsentation, die von den Modellhervorbringern auf die Merkmale reduziert wurde, die im Hinblick auf bestimmte Motive relevant erschienen, und die für bestimmte Subjekte während eines bestimmten Zeitraums eine Ersetzungsfunktion erfüllt. Diese sind häufig verbunden mit der Wahrnehmung eines "Kulturgefälles", das heißt, das jeweilige Modell wird als "überlegen", als fortschrittlich wahrgenommen. Die Orientierung am Modell verspricht so Modernisierungsgewinne. Fremd- und Selbstwahrnehmungen spielen eine zentrale Rolle bei der Konstruktion solcher Modelle. Insbesondere Stereotypen stellen, indem sie komplexe Realitäten reduzieren und so handhabbar machen, Selektionsinstrumente bzw. Abwehrmechanismen dar. Sie unterliegen zum Teil rasch wechselnden Konjunkturen: Anglophilie konnte in Anglophobie umschlagen und umgekehrt. Die Selbst- und Fremdwahrnehmungen färben wiederum auf die Transferinhalte und deren Akzeptanz ab: Spanisches Hofzeremoniell, französische Mode, englischer Garten oder die US-amerikanische Mickey Mouse sind nicht nur mit mehr oder weniger eindeutigen Herkunftskonnotationen versehen, sondern auch verbunden mit einem komplexen Geflecht aus Konzepten und Gefühlen – positiven wie negativen.
Im 16. Jahrhundert war Spanien – als Teil der habsburgischen Besitzungen, in denen "die Sonne niemals unterging" – die führende Macht Europas. Der Überblick Das spanische Jahrhundert beleuchtet die Bedingungen und Voraussetzungen für diesen spektakulären Aufstieg zur Weltmacht und untersucht, welche Transfers dadurch ausgelöst wurden. So prägten zum Beispiel das spanische Hofzeremoniell und die spanische Hoftracht die Selbstdarstellung der Fürstenhäuser bzw. Oberschichten Europas. Gleichzeitig wird jedoch auch deutlich, dass das, was als "spanisch" apostrophiert wurde, bereits das Resultat einer Vermischung (métissage) verschiedenster Kulturen war – so war die spanische Baukunst des 16. Jahrhunderts sowohl von der italienischen Renaissance als auch von gotisch-maurischen Traditionen beeinflusst.
"Spanien" konnte allerdings auch mit dezidiert negativen Stereotypen verbunden werden, wie das Basiselement Die Leyenda negra zeigt. Als im 19. Jahrhundert aufgekommener Begriff bezeichnet die "Schwarze Legende" eine im restlichen Europa verbreitete gegen die Spanier gerichtete Einstellung, deren Ursprünge angeblich im 16. Jahrhundert liegen und der zufolge Spanien ein Feind aller Neuerungen sei, ignorant, fanatisch und unfähig, unter den kultivierten Völkern zu bestehen. Der Beitrag zeichnet die Spanien-Bilder in verschiedenen Ländern Europas nach und schildert die Ereignisse, die Anlass zum Entstehen anti-spanischer Vorurteile gaben. Obwohl sich keine systematische Verunglimpfung der Spanier nachweisen lässt, kam die Vorstellung einer Leyenda negra gerade den Spaniern selbst sehr gelegen, da unter ihrem Schutz jedwede Kritik an Spanien als unfundierter Teil der "Schwarzen Legende" zurückgewiesen werden konnte.
Europa unterwegs
Migranten und Reisende als Mittler interkultureller Transfers
Vom wandernden Handwerksgesellen bis zum Computerspezialisten, vom Pilger zum Pauschaltouristen – Europa war und ist ein Kontinent in Bewegung. Im Mittelpunkt dieses Themenstrangs stehen zwei Gruppen, die im ständigen Kontakt mit dem Fremden mehr als nur eine punktuell oder individuell wirksame Mittlerrolle in Kulturtransferprozessen innehatten, nämlich Migranten und Reisende. Ob bewusst oder unbewusst, diese Migranten und Reisenden transportierten immer etwas mehr als das offensichtlich zu Erwartende, seien es Waren, Nachrichten, Essgewohnheiten oder Ideen. Häufig waren sie auch über den bloßen Transport hinaus an Transferprozessen beteiligt. Indem sie eigene Erfahrungen und Deutungen einbrachten, erweiterten oder beschnitten sie die Inhalte (Objekte, Diskurse oder Praktiken) des Transfers. Der Themenstrang stellt die verschiedenen historischen Formen der Grenzüberschreitung und die mobilen Mittler vor, die Transferprozesse anstießen, weitertrugen oder auch blockierten.
Migrationen von europäischen Juden, die als Angehörige einer transterritorialen Diaspora eine wichtige Rolle als interkulturelle Mittler spielten, haben Europa in besonderer Weise geprägt. Der Überblick Jüdische Migration wirft dabei auch die Frage auf, ob solche Wanderungsbewegungen vorwiegend das Resultat von Verfolgung und Diskriminierung waren oder ob wirtschaftliche Motive im Mittelpunkt standen.
Die zugehörigen Basiselemente Sephardische Juden, Aschkenasische Juden sowie Ost- und südosteuropäische Juden gehen genauer auf die (Migrations-)Geschichte dieser jüdischen Bevölkerungen und ihre Kontakte mit den aufnehmenden Gesellschaften ein.
Europäische Medien
Medien und Medienereignisse
Neben Menschen waren und sind Medien – verstanden als Techniken, die zu einer massenhaften Verbreitung von Informationen an eine große Zahl von Empfängern dienen – die bedeutendsten Träger von Kommunikation und Transfer. Mehr als dies – Medien haben die direkte Kommunikation zwischen einzelnen Individuen und den Transfer über Reisende oder Migranten nicht nur ergänzt, sondern zusehends überformt. Die Beiträge dieses Themenstrangs untersuchen die Rolle, die Medien als Vermittler von Inhalten in den vielfältigen Austauschprozessen zwischen nationalen, regionalen und sozialen Sphären spielten, und wie sie diese Inhalte veränderten. Sie stellen dazu unterschiedliche Medientypen als Transmitter in Transferprozessen und in ihrer historischen Entwicklung vor. Einen Schwerpunkt des Themenstrangs bilden europäische Medienereignisse, das heißt Schlüsselereignisse, die eine gesamtgesellschaftliche und (mehr oder weniger) europaweite Debatte auslösten. Diese Ereignisse finden in fast allen Medien statt und weisen eine Tendenz zur "Berichterstattung über die Berichterstattung" auf. Als Knotenpunkte einer verdichteten Kommunikation ermöglichen sie Einblicke in Formen und Strategien von Kommunikation und damit in die Mechanismen interkultureller Transfers sowie die Formierung transnationaler Kommunikationsräume. Beiträge zu Medienereignissen von der Wittenberger Reformation bis zum Zweiten Weltkrieg, von der Naturkatastrophe bis zur Revolution zeigen, wie sich die Kommunikation entwickelte und veränderte. Nicht zuletzt fördern sie neue Erkenntnisse darüber zutage, wie "europäisch" diese Medienereignisse tatsächlich waren.
Einen Einstieg bietet der Überblick Europäische Medienereignisse. Er definiert das Konzept "Medienereignis" und schildert dessen Entwicklung von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Gleichzeitig wird untersucht, wie sich politische Gegebenheiten und die Entwicklung neuer Techniken auf die mediale Verarbeitung von Geschehnissen ausgewirkt haben – so waren zum Beispiel die medialen Auswirkungen der Reformation unter anderem wesentlich von der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern bestimmt. Eine diesen Thread durchziehende Leitfrage ist außerdem, wie sich die kollektive Erfahrung von Medienereignissen auf die Bildung eines Europabewusstseins ausgewirkt hat. Basiselemente beschäftigen sich mit einzelnen Medienereignissen. Zum Beispiel wird die Französische Revolution, ein Schlüsselereignis der europäischen Geschichte, in doppelter Hinsicht als medial geprägt dargestellt: Zum einen war sie ein Resultat einer nie dagewesenen Explosion im Aufkommen von Text-, Bild- und oralen Medien, zum anderen wurden die spektakulären Ereignisse der Revolution durch Zeitungen, Karikaturen, aber auch Lieder in rasanter Weise in Europa verbreitet. Der Beitrag untersucht, welche Transferprozesse sich bei und durch diese mediale Verbreitung ergaben: wie zum Beispiel in mehreren deutschen Städten durch öffentliche Feiern und Theateraufführungen der erste Jahrestag der Erstürmung der Bastille begangen wurde – mit dem Ziel, deutschen Patriotismus nach französischem Vorbild zu stärken.
Europäische Netzwerke
Transfer von Ideen, Techniken und Praktiken in persönlichen Beziehungsgeflechten
In gewisser Hinsicht kann das Netzwerk als Sinnbild für eine transkulturelle Geschichte Europas insgesamt gelten, die – allgemein gesprochen – die Perspektive über Strukturen und nationalstaatliche Kategorien hinaus auf grenzüberschreitende Vernetzungen erweitern will. Im Mittelpunkt steht das Beziehungsgeflecht aus Kommunikationsströmen, das Europa und die Welt bedeckt, das den individuellen Akteur einfängt und ihn auf verschiedensten Ebenen mit anderen Akteuren verknüpft. Die in diesem Themenstrang behandelten Netzwerke – verstanden als eine Summe von Verbindungen zwischen Menschen – weisen eine Verstetigung von Kommunikation zwischen regelmäßigen und identifizierbaren Akteuren auf Personenebene über Grenzen hinweg auf. In allen diesen Beziehungen tauschen Menschen Informationen und/oder Güter aus. Dabei transferieren sie, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, Ideen, Techniken oder Praktiken. Es kann sich sowohl um Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Dynastien, um Glaubensgemeinschaften als auch um wirtschaftliche bzw. politische Kooperationen oder gar um im Verborgenen operierende Geheimgesellschaften handeln.
"Europa wurde bis zum Ende des Ancien Régime von einer großen Familie beherrscht – der Familie der europäischen Dynastien": So lautet eine These, der im Überblick Dynastische Netzwerke nachgegangen wird. Dieser untersucht die verwandtschaftlichen Bande der europäischen Fürstenhäuser. Um ihre Herrschaft zu sichern, setzten die europäischen Dynastien auf Kommunikation und Kooperation mit Verwandten, woraus differenzierte Netzwerke hervorgingen, die auch Transfers zwischen den vernetzten Familien und damit ihren Herrschaftsbereichen ermöglichten. Zwar stand hinter diesen Transfers meist keine bewusst verfolgte Intention, dennoch brachte das enge Netzwerk des europäischen Hochadels Übernahmen und Lernprozesse mit sich.
Eine spezifische Form der adligen Netzwerkbildung bildete die dynastische Heirat. Dieser Beitrag macht deutlich, dass die "Familie der Fürsten" kein gesamteuropäisches Netzwerk darstellte, sondern in bestimmte Heiratskreise untergliedert war, die seit der Frühen Neuzeit wesentlich von der Konfession bestimmt wurden. So gab es einen (protestantischen) britisch-norddeutsch-nordeuropäischen Heiratskreis und den französisch-süddeutsch-südeuropäischen, der katholisch geprägt war. Nur sehr selten kam es zu Heiraten außerhalb dieser Kreise, was die Möglichkeiten von Transfers einschränkte. Als besonders erfolgreiches Beispiel wird das Haus Sachsen-Coburg-Gotha herausgegriffen, das im 19. Jahrhundert durch strategisch geschickte Heiraten eine große Anzahl europäischer Königsthrone besetzen konnte.
Transnationale Bewegungen und Organisationen
Gruppen mit grenzüberschreitenden Programmen und Strukturen
Dieser Themenstrang beschäftigt sich mit transnational und über-individuell operierenden Organisationen und Bewegungen, wie sie insbesondere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Plan traten. Damit sind klar identifizierbare Gruppen von gesellschaftlichen Akteuren gemeint, die sowohl regelmäßig über nationale Grenzen hinweg agierten als auch Regelungsmechanismen für ihre transnationale Zusammenarbeit aufstellten und formale Organisationsstrukturen ausbildeten. Dieser Themenstrang vereint daher nicht nur Beiträge zu den großen sozialen Bewegungen Europas, wie der Frauen- und der Arbeiterbewegung, sondern auch zu internationalen Organisationen, wie dem Roten Kreuz, und Verwaltungsgemeinschaften im Sinne von low politics – z.B. internationale Sportverbände (IOC, Fifa) oder Verkehrs- und Nachrichtenunionen (Internationale Telegraphen-Union).
Eine dieser Bewegungen ist der Zionismus, die aktive Bewegung für die Rückkehr der Juden nach Palästina, dem in diesem Themenstrang zwei Beiträge gewidmet sind. Die Formierung der jüdischen Nationalbewegung im transnationalen Austausch behandelt die Geschichte des Zionismus in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg und fragt nach Entstehung, Funktion und Wirkungsweise grenzübergreifender Kommunikation und Interaktion. Dabei rücken vor allem Prozesse der Verflechtung in den Mittelpunkt, die sich im Spannungsfeld zwischen dem Bekenntnis zur jüdischen Nation, der nationalstaatlichen Verwurzelung und dem die Staatsgrenzen überschreitenden, transnationalen Agieren der Zionisten vollzogen. Die Entwicklung des Zionismus bis zur Staatsgründung Israels zeichnet die weiteren Entwicklungen bis zur Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina im Jahr 1948 nach. Der Beitrag zeigt, wie das aufstrebende Projekt der jüdischen Besiedlung Palästinas äußeren und inneren Schwierigkeiten unter britischem Mandat und im Schatten des Nationalsozialismus trotzen konnte.
Bündnisse und Kriege
Abwehr- und Lernprozesse durch militärische Siege und Niederlagen
Der Themenstrang richtet den Blick auf das Konfliktpotential in der europäischen Geschichte und trägt gleichzeitig prägenden Ereignissen Rechnung, die nicht selten mentale Zäsuren bildeten. Dabei interessieren zum einen die Kommunikations- und Austauschprozesse, die im und durch den Krieg selbst stattfanden, wobei sich insbesondere die militärische Niederlage häufig als Auslöser intensivierter Transfer- und Lernprozesse ausmachen lässt. Zum anderen sollen die unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen des kriegerischen Ereignisses selbst betrachtet werden: Es bringt sowohl spezifische Formen des Transfers, etwa durch militärische Bündnisse, Besatzung, Kriegsgefangenschaft oder Friedensverträge, als auch der Abwehr hervor, so z.B. abwertende Reinterpretationen "fremder" Elemente. Der Themenstrang Bündnisse und Kriege steht so auch dafür, dass die europäische Geschichte sich keinesfalls nur durch den Austausch von Ideen und Waren auszeichnet, sondern die wechselseitigen Beziehungen stets Konflikte bargen.
Eine ganze Reihe von Kriegen führte vor und nach der Wende zum 19. Jahrhundert das revolutionäre/napoleonische Frankreich. Der Beitrag Revolutionskriege und Napoleonische Kriege zeichnet die verschiedenen Konflikte und sich verändernden Allianzen nach und macht deutlich, wie sie mit den europäischen Beziehungsgeflechten aus der vorrevolutionären Ära in Verbindung standen. Auch wird danach gefragt, ob und in welchem Maße die Errungenschaften der Revolution gerade durch Krieg und Besatzung in Europa verbreitet wurden.
Eine Neuerung, die 1793 in Frankreich eingeführt wurde, war die sogenannte Levée en masse, die allgemeine Wehrpflicht unverheirateter Männer zwischen 18 und 25 Jahren. Ein Vertiefungselement schildert diese vom Nationalkonvent verfügte Massenaushebung, die als Geburtsstunde der Idee einer bewaffneten Nation angesehen werden kann. Dabei wird nicht nur untersucht, wie der Transfer des Konzepts der "Levée en masse" in der unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Nähe vonstattenging, wie also zum Beispiel Preußen und Österreich auf diese Herausforderung reagierten, sondern auch welche Ausprägungen es bis in die Gegenwart und zum Teil in völlig anderen räumlichen und politischen Kontexten, wie Che Guevaras Partisanenkampf in Lateinamerika, erfuhr.
Europa und die Welt
Verflechtungen und Spiegelungen zwischen "Europa" und der außereuropäischen Welt
Seit den "Entdeckungen" der Frühen Neuzeit stehen die verschiedenen Regionen der Welt in einem permanenten Kontakt miteinander, dessen Interaktionen die Erfahrungs- und Lebenswelten aller Kulturen berührt haben. Damit wurden die innereuropäischen Transferprozesse der Neuzeit immer stärker von europäisch-außereuropäischen Transfers ergänzt und überformt. Die Beiträge dieses Themenstrangs behandeln nicht nur Transferprozesse, die von Europa in Richtung außereuropäische Welt liefen, sondern auch solche, die Europa aus der außereuropäischen Welt aufnahm oder abwehrte. Von besonderem Interesse ist dabei, inwieweit sich eine europäische Identität in Begegnung, Austausch und Abgrenzung mit und zur außereuropäischen Welt entwickelte und inwieweit diese Begegnung auch die europäischen Gesellschaften selbst transformierte.
Eine zentrale Kategorie, welche die Beziehungen Europas mit der außereuropäischen Welt charakterisiert, ist Herrschaft. Dieser Überblick stellt Formen und Akteure europäischer Herrschaft, verschiedene Herrschaftstechniken sowie Herrschaftsstrukturen dar und fragt nach den durch sie ausgelösten Transferprozessen, aber auch nach Widerständen und Rückwirkungen auf Europa. Zwar etablierte Europa asymmetrische Abhängigkeitsverhältnisse zu seinen Gunsten, wandelte sich aber im Kontakt mit der übrigen Welt auch selbst. So inspirierte die Debatte über die Abschaffung der Sklaverei die allgemeine Diskussion über die Menschenrechte.
Der Beitrag Islamisches Recht und europäischer Rechtstransfer zeichnet nach, wie der Kontakt mit Europa die Rechtsvorstellungen der islamischen Welt beeinflusst hat. So wurden zum Beispiel byzantinische Institutionen durch das expandierende Osmanische Reich adaptiert. Im 19. Jahrhundert fand mit der teilweisen Übernahme des französischen "Code de commerce", eines Handelsgesetzbuches, die erste Rezeption einer westlichen Rechtssammlung statt.
Zitierempfehlung
Berger, Joachim / Willenberg, Jennifer / Landes, Lisa: EGO | Europäische Geschichte Online: Eine transkulturelle Geschichte Europas im Internet, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010-12-03. URL: http://www.ieg-ego.eu/introduction-2010-de URN: urn:nbn:de:0159-20101025223 [JJJJ-MM-TT].
Bitte setzen Sie beim Zitieren dieses Aufsatzes hinter der URL-Angabe in Klammern das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse ein. Beim Zitieren einer bestimmten Passage aus dem Aufsatz bitte zusätzlich die Nummer des Textabschnitts angeben, z.B. 2 oder 1-4.