Alphabetisierung@Alphabetisierung@(ÜB)@freigabe
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Einleitung: Formen der Alphabetisierung im Europa der Frühen Neuzeit
Zwischen der Renaissance und dem Zeitalter der Romantik liegen in Europa die Anfänge des bahnbrechenden Übergangs von der eingeschränkten Alphabetisierung zur umfassenden Massenalphabetisierung. Während im Jahr 1500 die meisten Menschen Analphabeten waren, konnte um 1800 die Mehrheit der Erwachsenen in Nordwesteuropa lesen und schreiben und einige hatten die Möglichkeit, von einer bis dahin ungekannten Menge und Bandbreite an Gedrucktem und Geschriebenem zu profitieren.1
Zur Alphabetisierung in der Frühen Neuzeit gehörten verschiedene Fertigkeiten, die weniger als eigenständige Kategorien, sondern vielmehr als Bestandteile eines Kommunikationsspektrums betrachtet werden sollten. Das Lesen von gedruckten oder geschriebenen Texten konnte auf zwei Fertigkeitsebenen erfolgen. Einige Menschen waren in der Lage, Texte zu entziffern, laut vorzulesen und auf mechanische oder ritualisierte Weise auswendig zu lernen, auch wenn sie den Inhalt nicht unbedingt verstanden. Sie befanden sich auf einer Vorstufe zur vollständigen Alphabetisierung, waren sozusagen halbalphabetisiert. Die Gebildeteren, die sich intensiver mit Gedrucktem und Geschriebenem auseinandersetzten, konnten den Inhalt von Texten präziser erfassen, sie still für sich lesen und darüber reflektieren. Sie waren in der Lage, nicht nur vertraute, sondern auch neue Texte zu verstehen. Das "Lesen" beschränkte sich jedoch nicht auf geschriebene oder gedruckte Wörter. Man konnte Informationen und Ideen auch auf andere Weise visuell aufnehmen: indem man Bilder und Drucke in Flugschriften und Volksbüchern (Leseheften) betrachtete und deutete oder sich Schauspiele und Festzüge ansah bzw. daran teilnahm.
Um eigene Gedanken anders als durch gesprochene Sprache übermitteln zu können, musste man schreiben lernen oder vielmehr in der Lage sein, Texte zu verfassen, eine anspruchsvolle Fertigkeit, die mit beträchtlichem Schulungs- und Übungsaufwand verbunden war und für die meisten Menschen die "volle" Alphabetisierung bedeutete. Die andere, üblichere Methode des Schreibens war das Kopieren: das Abschreiben von Texten, die man nicht unbedingt verstand. In dieser Zeit begannen die Menschen, auf Dokumenten mit ihrem Namen zu unterschreiben und die Unterschriftsfähigkeit wird gewöhnlich als Indikator dafür angesehen, dass eine Person gedruckte und geschriebene Texte, die in der Alltagssprache verfasst waren, lesen und verstehen konnte. Die Alphabetisierung umfasste ein Spektrum an Fertigkeiten, zu denen auch der mühelose Umgang mit Prosa und Dokumenten sowie das Rechnen gehörten. Historiker können die Prosa-Alphabetisierung (Berichte über bzw. Zusammenfassungen der Ergebnisse von Lesetests) oder Aspekte der Alphabetisierung im Hinblick auf den Umgang mit Dokumenten (Unterschriften auf gerichtlichen Aussagen, Verträgen oder Heiratsurkunden) untersuchen. Es gibt allerdings nur wenige quantitative historische Untersuchungen zur Rechenfertigkeit. Das Addieren von Zahlen war ein wesentlicher Bestandteil des Alltagslebens und die Unfähigkeit, bis zehn zu zählen oder mit Geld umzugehen, wurde in Zivilgerichtsverfahren als Kriterium für geistige Unzurechnungsfähigkeit benutzt. Darüber hinaus hatte der englische Denker Thomas Hobbes (1588–1679) im 17. Jahrhundert das Rechnen mit dem logischen Denken gleichgesetzt und selbst der berühmte schottische Philosoph David Hume (1711–1776) verzichtete darauf, das "abstract reasoning concerning quantity and number" seinem scharfen Skeptizismus zu unterziehen. Ebenso betonte Hugo Grotius (1583–1645) in seinem Buch De jure belli ac pacis (Über das Recht des Krieges und des Friedens), selbst Gott könne nichts daran ändern, dass zweimal zwei vier ergäbe (Buch 1, Kap. 1, Titel X, 5). Zudem stellten Arithmetik und Mathematik wesentliche Bestandteile der im 18. Jahrhundert eingeführten neuen Ausbildungsmethoden für Handel, Gewerbe und Militär dar, was zu einer größeren Vertrautheit mit Zahlen und zu größerer Genauigkeit im Umgang mit ihnen führte.2
Einen noch privilegierteren Platz innerhalb des Spektrums nahm jene kleine Minderheit ein, die in der Lage war, Texte in Latein, der internationalen Sprache der Gebildeten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, oder in einer anderen paneuropäischen Sprache wie Französisch zu kopieren oder selbst zu erstellen, was mit einer "vollständigen" Alphabetisierung gleichzusetzen ist. Aber selbst wer über keine dieser Fähigkeiten verfügte, war kulturell nicht isoliert, denn auch das Zuhören spielte eine wichtige Rolle. So konnte man den Predigten von Geistlichen oder einem laut vorlesenden Freund lauschen oder sich aktiv oder passiv an Diskussionen mit gesellschaftlich Gleichgestellten beteiligen.3 Auch Gebärden blieben eine subtile und wichtige Art nonverbaler Kommunikation, und es gab viele andere "Sprachen", wie etwa die Art und Weise, in der man Geschenke machte oder annahm. Zusammen genommen ergaben sich so vielfältige Möglichkeiten zu Interaktionen, Austauschbeziehungen, Formen der Machtausübung und der Beeinflussung.4 Obwohl Alphabetisierung ein relativer Begriff ist, der nur in spezifischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten eine konkrete Bedeutung annimmt, neigen Historiker dazu, sich auf universelle, standardisierte und unmittelbare Indikatoren zu stützen, wie z.B. die Fähigkeit, ein Dokument mit dem eigenen Namen zu unterzeichnen. Wenn man diesen Maßstab ansetzt, wird klar, dass es in der Frühen Neuzeit soziale Unterschiede hinsichtlich der Befähigung zum Gebrauch eines Schreibgerätes gab. So war die Alphabetisierung bei Männern, Reichen, Protestanten und Stadtbewohnern weiter fortgeschritten als bei Frauen, Armen, Katholiken und Landbewohnern.
Bestimmende Faktoren und Dynamiken der Alphabetisierung
Die Faktoren, die die Alphabetisierung vorantrieben waren sozial selektiv und daraus ergaben sich dauerhafte Ungleichheiten bei der Alphabetisierung des frühneuzeitlichen Europas. Die Schreib- und Lesefähigkeit hing vom Zugang zu Schulbildung, dem Bedarf für grundlegende Kenntnisse, den Gelegenheiten zur Anwendung dieser Kenntnisse und den gesellschaftlichen und kulturellen Einstellungen zur Alphabetisierung ab. Die ab dem 15. Jahrhundert stattfindenden "Revolutionen" in den Bereichen des Handels und Gewerbes, der Religion, der Verwaltung und des Geisteslebens führten zu besseren Bildungsmöglichkeiten und einem steigendem Bildungsbedarf. Im damaligen Europa bestimmte eine Vielzahl von Faktoren den Zugang zu Bildung und Alphabetisierung: die Vermögensverhältnisse, das Geschlecht, das Erbrecht, die beruflichen Aussichten, die Beschäftigungsmöglichkeiten für Kinder und sogar die Sprache, die man sprach. So gab es bei der Ausweitung der Alphabetisierung sowohl "Push"- als auch "Pull"-Faktoren. Zu den Ersteren gehörten beispielsweise religiös motivierte (und zwar nicht nur protestantische, sondern auch katholische) Bildungsinitiativen. "Pull"-Faktoren waren individuelle religiöse Bedürfnisse und wirtschaftliche Anreize, wie das Streben nach sozialer oder geographischer Mobilität. Neue Schulen wurden gegründet, aber die Nachfrage nach noch mehr Bildungsstätten stieg weiterhin an. Der Schulbesuch war ein wichtiger Bildungsfaktor, doch gab es nirgends eine Schulpflicht und wegen der damit verbundenen Kosten erhielten viele Kinder nur eine sehr kurze und einfache Schulbildung.In Schweden und anderen skandinavischen Ländern gab es aufgrund der über große Gebiete verstreuten, überwiegend ländlichen Bevölkerung nur wenige Schulen, so dass die in weiten Schichten der Bevölkerung verbreitete Lesefähigkeit dieser Regionen beinahe ausschließlich dem Heimunterricht zu verdanken war.5 Auch die Alpen- und Pyrenäenregionen hatten eine lange Tradition von Heimunterricht und umherreisenden Pädagogen – und einen hohen Alphabetisierungsgrad.6 Am Beispiel dieser nördlichen Gebieten und dieser Gebirgsregionen sieht man, dass ein im Vergleich zu den ökonomischen Kerngebieten Europas geringer wirtschaftlicher Entwicklungsstand nicht unbedingt ein Hindernis für die Alphabetisierung sein musste.
Viele Fortschritte bei der Alphabetisierung lassen sich auf die religiösen Auseinandersetzungen der Frühen Neuzeit zurückführen. So war die schwedische Alphabetisierungskampagne ein Mittel zur Konsolidierung der evangelischen Reformation in diesem Land. Der Protestantismus gilt gemeinhin als die Religion des Buches und die meisten frühen Bildungsinitiativen ergaben sich aus evangelikalen Bedürfnissen. Während es 1520 im Herzogtum Württemberg 89 Schulen gab, waren es um 1600 bereits über 400 und zahlreiche deutsche Landesfürsten verabschiedeten damals Verordnungen zur Einführung oder Regulierung der Grundschulbildung.7 Tatsächlich war die Alphabetisierung in protestantischen Ländern im Allgemeinen weiter fortgeschritten als in katholischen und wo beide Glaubensrichtungen nebeneinander bestanden, wie etwa in Frankreich, Irland und in den Niederlanden, waren die Calvinisten meist gebildeter als die Katholiken.8
Bei genauerer Betrachtung ergibt sich jedoch ein komplexeres Bild, als es diese einfache Dichotomie vermuten lässt. So gab es bei den Protestanten einen höheren Anteil von Handwerkern, Kaufleuten und Angehörigen der freien Berufe, deren Vertreter naturgemäß gebildeter und besser alphabetisiert waren als die niedrigeren Gesellschaftsschichten der Bauern und Arbeiter. Im Nordirland des 17. Jahrhunderts waren protestantische Bauern eher in der Lage, mit ihrem Namen zu unterschreiben als katholische. Sie waren jedoch auch reicher und lebten in weniger abgelegenen Gebieten.9 Gleichwohl waren die Protestanten den Katholiken nicht immer und überall überlegen. In der protestantischen Vaucluse (Provence) war die Alphabetisierung im frühen 19. Jahrhundert weniger fortgeschritten als in der schwäbischen Provinz Baden, die zwar katholisch war, aber mehr Gemeineigentum besaß und so die Schulbildung subventionieren konnte.10
Selbst energische Bildungsinitiativen, wie die ab etwa 1680 über einen Zeitraum von 100 Jahren von den lutherischen Pietisten durchgeführte Kampagne, konnten nur langsam die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen überwinden, die zu großen lokalen und regionalen Unterschieden in der Alphabetisierung führten. Auf einigen Gütern in Jütland (Norddänemark) nahm die Zahl der mit ihrem Namen unterzeichnenden Bauern im Verlauf des 18. Jahrhunderts dramatisch zu. Um 1720 waren vier von fünf Männern nicht dazu in der Lage, um 1800 war es nur noch einer von zehn. Im Vergleich dazu lag der Anteil der Analphabeten auf einem Gut in der Nähe von Odense in der südlichen Provinz Fünen im 17. Jahrhundert durchweg bei etwa 90 Prozent. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts kam es zu einer Angleichung, da der Anteil von Analphabeten im Süden kontinuierlich abgenommen hatte, während er im Norden angestiegen war, so dass zu diesem Zeitpunkt in beiden Gebieten etwa 30 Prozent der Männer Analphabeten waren.11 Dieses Beispiel verweist auf einen weiteren charakteristischen Punkt: Die Alphabetisierung war keineswegs ein homogener, durchgängig verlaufender Prozess. Während die Alphabetisierung im 18. Jahrhundert in den meisten Teilen Europas voranschritt, ging in Polen die Zahl der Menschen, die mit ihrem Namen unterschreiben konnten, aufgrund politischer und militärischer Krisen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sogar zurück.
Der dynamische Katholizismus der Gegenreformation führte teilweise zu ähnlichen Ergebnissen wie in den protestantischen Kerngebieten. Während in den 1560er und 1570er Jahren nur 40 Prozent der von der spanischen Inquisition angeklagten Erwachsenen eine genaue Kenntnis der Zehn Gebote besaßen, waren es in den 1590er Jahren 80 Prozent. Im gleichen Zeitraum fiel der Anteil der von der Inquisition als vollkommen ungebildet beurteilten Angeklagten von 50 auf unter 10 Prozent.12 In Frankreich, Spanien und Italien wurde in Bildungskampagnen der Schwerpunkt weniger auf das Lesen als auf das Auswendiglernen gelegt, da der katholische Klerus dem selbständigen Lesen ohne Anleitung skeptisch gegenüberstand. Bei der Verbreitung ihrer Lehren setzten die Kirchen, welche an einer kontrollierten Verbreitung ihrer Botschaft interessiert waren – und das galt sowohl für Katholiken als auch für Lutheraner –, meist auf das Auswendiglernen von Gebeten und Katechismen und das (angeleitete) Lesen der Bibel und anderer religiöser Texte. Tatsächlich waren die Unterschiede zwischen den Konfessionen oft subtiler als die stark differierenden Alphabetisierungsraten vermuten lassen. Trotzdem waren sie wichtig. So hatten Protestanten und Katholiken unterschiedliche Ansichten im Hinblick auf die Nutzungsmöglichkeiten und den Stellenwert der Alphabetisierung. Die Lektüre der Heiligen Schriften war für den reformierten Glauben von zentraler Bedeutung. Auch wenn sich bei den Lutheranern die Unterweisung hauptsächlich auf die Katechismen und die Psalmen und weniger auf die autorisierten Bibeltexte stützte, wurden religiöse Bücher von Protestanten wahrscheinlich häufiger gelesen und das Lesen an sich hatte einen besonderen Status, besonders für Calvinisten.13 Protestanten besaßen meist mehr Bücher zu einer größeren Bandbreite religiöser Themen als ihre katholischen Nachbarn und nutzen diese auf andere Weise. Religiöse Bücher waren nicht bloße Hilfsmittel, sondern besaßen eine große Symbolkraft, sie wurden als Quellen der Autorität angesehen, was in ihnen verzeichnet war (oder das, von dem man dachte, dass es in ihnen verzeichnet sei) wurde akzeptiert.
Die Reformation traf auf europäische Gesellschaften mit einer sehr begrenzten Alphabetisierung. Zum Ende des Mittelalters konnten weniger als 10 Prozent der Männer schreiben, bei den Frauen war der Anteil vernachlässigbar gering. Diese grundlegende Diskrepanz zwischen den Geschlechtern blieb über Jahrhunderte hinweg bestehen und in der Frühen Neuzeit machten die Männer fast durchgängig größere Fortschritte als die Frauen. So war zum Beispiel im Jahr 1630 einer von drei Bräutigamen nicht in der Lage, im Amsterdamer Heiratsregister zu unterschreiben, während es bei den Bräuten zwei Drittel waren. Bis zum 18. Jahrhundert schritt die Alphabetisierung bei den Männern allgemein schneller voran als bei den Frauen, so dass sich der Abstand zwischen den Geschlechtern selten verringerte. In Amsterdam sank der Anteil der Analphabeten zwischen 1680 und 1780 sowohl bei den Bräuten als auch bei den Bräutigamen: bei den Männern von 30 auf 15 Prozent, bei den Frauen von 56 auf 36 Prozent.14 Auch schritt die Alphabetisierung bei Stadtbewohnern schneller voran als bei der Landbevölkerung. In den von wohlhabenderen Kaufleuten und Angehörigen der freien Berufe bewohnten Stadtzentren konnten besonders viele Menschen lesen und schreiben, womit sie sich sogar von den Bewohnern der Vorstädte unterschieden. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts lag die Alphabetisierungsrate in London und Paris bei über 90 Prozent, ein Anteil, der landesweit erst im späten 19. Jahrhundert erreicht wurde. In Ost- und Südeuropa konnten fast nur Stadtbewohner und Gutsbesitzer lesen und schreiben. Die hohe Alphabetisierungsrate der Niederlande erklärt sich unter anderem aus der hohen Urbanisierung, während in einer ländlichen Gesellschaft wie der Südspaniens, in der die meisten Menschen arme Bauern oder Arbeiter waren, der Anteil gering war und sich vor allem auf die wichtigeren Städte konzentrierte.15 Auch in den großen Städten Norditaliens war die Schulbildung in der Renaissance weit verbreitet und der Anteil der Handwerker und Kaufleute, die lesen und schreiben konnten, war in etwa mit dem in den nordwesteuropäischen Städten des 17. Jahrhunderts vergleichbar.16
Die Alphabetisierung war ein stockender und unregelmäßig verlaufender Prozess. Legt man als Maßstab die Unterschriftsfähigkeit an, gab es die frühesten und bedeutendsten Fortschritte bei den Angehörigen der Mittel- und Oberschicht, bei Männern und in den Städten. In Nordengland fiel der Anteil der Analphabeten im niederen Adel von 30 Prozent im Jahr 1530 auf nahezu Null im Jahr 1600, während er bei den Tagelöhnern bei über 90 Prozent blieb.17 Verschiedene Gruppen erreichten zu bestimmten Zeiten Obergrenzen, die zum Teil mehrere Jahrzehnte lang nicht überschritten wurden. Darüber hinaus waren die Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Gruppen je nach Region und Zeitpunkt unterschiedlich stark ausgeprägt. Im 16. Jahrhundert, als das Lernen von lesen und schreiben noch in hohem Maße bestimmten Klassen vorbehalten war, waren beinahe ausschließlich Gutsbesitzer, Kaufleute und die Angehörigen der freien Berufe alphabetisiert. Ein breiter Graben trennte sie von den analphabetischen, sozial unter ihnen stehenden Klassen. Diese starke Differenzierung wurde allmählich abgemildert, denn im Lauf der Zeit lernten immer mehr Angehörige der Mittelschicht und der unteren Stände, wie Handwerker und Farmer, das Lesen und Schreiben.
In England, den schottischen Lowlands, den Niederlanden, Nordwestdeutschland und Nordostfrankreich war der Anteil der Analphabeten in der Mittelschicht bis zum Ende des 17. Jahrhunderts gesunken. Zumindest was die Alphabetisierung der männlichen Bevölkerung betraf, hatte Kastilien im 16. Jahrhundert auf Augenhöhe mit Frankreich und England gelegen. Zwischen ca. 1620 und ca. 1740 jedoch geriet es in dieser Beziehung immer mehr ins Hintertreffen. Die Alphabetisierung von Frauen schritt in Kastilien von etwa 1500 bis 1740 nur unwesentlich voran.18 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts machten Frauen in ganz Westeuropa größere Fortschritte. In den zwei Generationen vor der Revolution schritt die Alphabetisierung der Frauen in Nordfrankreich dank der Bemühungen der Schulordensnonnen wesentlich schneller voran als die der Männer und in Teilen Nordwestdeutschlands wurden Mädchen erstmals in Arithmetik unterrichtet. Es gab große Fort-, aber immer auch wieder Rückschritte beim Prozess der Alphabetisierung.19 In einigen frühindustriellen Städten Großbritanniens und in den südlichen Niederlanden, die über Jahrhunderte hinweg eine Vorreiterrolle eingenommen hatten, sanken zum Ende des 18. Jahrhunderts die Alphabetisierungsraten, weil die Bildungseinrichtungen mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt halten konnte und die Kinderarbeit sich negativ auf den Schulbesuch auswirkte.20 Die Lücke wurde mit der Gründung ehrenamtlich geführter Sonntags- und Abendschulen geschlossen, ein wichtiger Schritt, der lokale Traditionen der Selbsthilfe aufgriff. Ähnliche Initiativen hatte es jedoch auch in den Städten des katholischen Europa über Jahrhunderte hinweg gegeben.21
Sprache und Alphabetisierung
Im Osten und Süden änderten sich die Verhältnisse nur sehr langsam, doch in weiten Teilen Nordwesteuropas stieg die Alphabetisierungsrate, was zu einer Zunahme der Kommunikationsmöglichkeiten führte. Dabei hing die Bandbreite von Lektüre und Korrespondenz nicht nur von den Lese- und Schreibfähigkeiten ab, sondern auch von der Sprache bzw. den Sprachen, die man beherrschte. Bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erschien die Mehrzahl der gedruckten Bücher in Latein. Wer eine klassische Bildung besaß (etwa ein bis zwei Prozent der Bevölkerung), war im Zeitalter der Renaissance Teil einer paneuropäischen Kultur. Dieser exklusive Kreis schloss die illiterati ("Ungebildeten") – der mittelalterliche Begriff für Menschen, die nicht Latein sprechen, lesen oder schreiben konnten – aus. Auch in der Frühen Neuzeit blieb Latein ein Kernfach in der höheren Bildung, und sogar im Zeitalter der Aufklärung spielte die klassische Kultur der alten Griechen und Römer eine wichtige Rolle. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts ersetzte die französische Sprache das Lateinische allmählich als kulturelle und intellektuelle Verkehrssprache – zumindest für die Eliten des katholischen und vielleicht auch des orthodoxen Europa. Französisch wurde zur bevorzugten Sprache der Diplomatie und des internationalen Ideenaustauschs. Die osteuropäische Aristokratie des 18. Jahrhunderts sprach und schrieb Französisch, obwohl Kirchenslawisch in Russland als Bildungssprache häufiger Verwendung fand. Beide Sprachen waren der Masse der Bauern gleichermaßen fremd und spielten in deren Alltag keine Rolle.22
Das Beispiel Russland zeigt, dass der Gegensatz zwischen Bildungs- und Umgangssprache nur einer von vielen linguistischen Widersprüchen im Europa der Frühen Neuzeit war. Die Umgangssprache wurde zunehmend auch im Bildungssystem, im gedruckten Wort, im Regierungsbetrieb und in der Verwaltung verwendet. Dennoch wurden oft selbst in kleinen Ländern mehrere Sprachen gesprochen, mit großen Auswirkungen auf die Alphabetisierung. Im Jahr 1800 sprachen sieben von zehn Einwohnern von Wales kein Englisch sondern nur Walisisch. Frankreich war ein linguistischer Flickenteppich. Das Französische (langue d'oïl) war 1790 nur in 15 von 89 départments die vorherrschende Sprache. Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 28 Millionen verstanden sechs Millionen Franzosen gar kein Französisch, sechs Millionen verstanden es, sprachen es jedoch nur mangelhaft. Darüber hinaus wurden 30 Patois sowie mehrere andere Sprachen wie Flämisch, Deutsch oder Baskisch gesprochen. Nur drei Millionen der Einwohner Frankreichs sprachen "richtig" Französisch.23 Die Wechselbeziehung zwischen linguistischer Vielfalt und Alphabetisierung stellte sich in den verschiedenen Teilen Europas ähnlich dar: In jenen Gebieten, in denen der Schulunterricht und die Interaktion mit staatlichen Stellen nicht in der Alltagssprache stattfand und auch keine Druckerzeugnisse in der Umgangssprache vorlagen, blieb die Alphabetisierung meist gering. In den Regionen Frankreich, in denen vorwiegend die langue d'oc gesprochen wurde, gab es bis zum 20. Jahrhundert mehr Analphabeten als in den Gebieten, in denen die langue d'oïl Verwendung fand. Ein weiteres Beispiel ist der Westen Irlands. Dort sprachen 55 bis 60 Prozent der in den 1770er Jahren geborenen Einwohner ausschließlich Irisch. Am Ende des 18. Jahrhunderts sprachen drei Viertel der Bevölkerung in den westlichen Grafschaften Munster, Connacht und Donegal (45 Prozent der Gesamtbevölkerung) Irisch, während es in den anderen 20 Grafschaften mit 55 Prozent der Gesamtbevölkerung nur 10 Prozent waren. Der Osten Irlands war de facto das alphabetisierte Irland. Auch in Ulster war Irisch meist nicht die vorherrschende Sprache und die Zahl der Analphabeten war aufgrund des Übergewichts englischsprachiger Presbyterianer, von denen viele schottische Wurzeln hatten, gering.24
Lesen und Oralität: Formen der Kommunikation
Die Forschung zur frühneuzeitlichen Alphabetisierung hat sich oft auf die Lese- und Schreibfähigkeit konzentriert und die meisten quantitativen Analysen sind durch diese Herangehensweise geprägt. Alphabetisierung ist jedoch "above all a technology or set of techniques for communications and for decoding and reproducing written or printed materials".25 Tatsächlich gibt es viele Gründe für die Annahme, dass das Lesen verbreiteter als das Schreiben war. Die Kinder der unteren Schichten, die 50 bis 90 Prozent der europäischen Bevölkerung ausmachten, gingen – wenn überhaupt – gewöhnlich nicht länger als drei bis vier Jahre zur Schule und lernten daher meist nur das Lesen. Für Erwachsene war das Lesen für die Religionsausübung und als Freizeitbeschäftigung wichtiger als das Schreiben, das man im Alltag keineswegs unbedingt brauchte. Im Italien und Frankreich des 18. Jahrhunderts kamen daher wahrscheinlich auf eine des Schreibens mächtige Frau zwei oder drei Frauen, die lediglich lesen konnten. Kirchen, die sich vor allem auf diese grundlegende Fähigkeit konzentrierten, hatten schnelleren Erfolg als andere, die eine umfangreichere Schulbildung förderten. Wie bereits geschildert, waren die religiös motivierten Alphabetisierungskampagnen der Lutheraner in Skandinavien von bemerkenswertem Erfolg gekrönt. Noch in der Mitte des 17. Jahrhunderts bestand nur ein Drittel der Erwachsenen die Lesetests der Kirche, während hundert Jahre später vier von fünf Erwachsenen in der Lage waren, bestimmte religiöse Texte zu lesen.
Einige Untersuchungen haben gezeigt, dass das Lesen offenbar weit verbreitet war und legen somit direkt oder indirekt eine breitere Teilhabe am kulturellen Leben nahe, als es die Zahlen zur Unterschriftsfähigkeit vermuten lassen. "Lesen" bedeutete jedoch oft Auswendiglernen und ohne Übung waren viele Menschen nicht in der Lage, die neue Literatur der Renaissance, der Reformation und der Aufklärung zu entdecken. Daten zur Verbreitung von Büchern in den einzelnen Gesellschaftsschichten und zu den in privaten Sammlungen enthaltenen Titeln lassen darauf schließen, dass das gemeine Volk nur sehr eingeschränkten Zugang zu gedruckten Büchern hatte, obwohl sie nominell zu den "Lesekundigen" zählten. Die Vermerke zu Büchern in den Bestandsaufnahmen der Besitztümer Verstorbener zeigen, dass (insbesondere in Frankreich und England) immer mehr Menschen Bücher besaßen, ein Phänomen, das jedoch vor allem auf männliche Angehörige der Ober- und Mittelschichten beschränkt war. Die 3.931 Abonnenten der ersten Auflage der "Aufklärungsbibel", der zwischen 1751 und 1765 erscheinenden Encyclopédie von Denis Diderot (1713–1784) und Jean le Rond d'Alembert (1717–1783), mussten wohlhabend sein, um sich die teuren Bücher leisten zu können. Gleichwohl muss die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass das Lesen verbreiteter war als das Schreiben, besonders bei Frauen und ärmeren Männern. Immerhin lasen weibliche Angehörige der haute bourgeoisie oder der Gutsbesitzerschicht (und hier anscheinend besonders unverheiratete Frauen) Zeitschriften und Romane, nutzten Leibüchereien, engagierten sich in Lesezirkeln, besuchten Theatervorstellungen und Konzerte, sammelten Drucke und kauften Gemälde. Frauen waren offenbar ebenfalls wichtige Adressaten der Literatur der Aufklärung. Die Buchproduktion stieg dramatisch an. Während im 16. Jahrhundert schätzungsweise 150 bis 200 Millionen Bücher gedruckt wurden, waren es im 18. Jahrhundert 1,5 Milliarden, eine Entwicklung, die durch die zunehmende Alphabetisierung gefördert und bedingt wurde.26 In Nordwesteuropa wurde das Schreiben persönlicher Briefe in den Mittel- und Oberschichten zur Normalität.27
Dennoch waren schreibende Frauen auch in diesen Gesellschaftsschichten nicht die Regel und es gab nach wie vor Vorbehalte gegen eine Bildung von Mädchen und Frauen, die über das konventionelle Rollenbild hinausging. Die Existenz von Formen sozialen Austauschs, in denen vor allem visuell, sprachlich und durch Singen kommuniziert wurde (wie etwa das französische veillée, das abendliche Beisammensein, oder die deutsche Spinnstube) und in denen gewöhnliche Frauen den Ton angaben, legt den Schluss nahe, dass deren kulturelles Leben noch immer durch orale bzw. auditive und visuelle Kommunikationsformen bestimmt wurde.28 Bei der Erziehung und Bildung von Jungen und Männern stand die Teilnahme am öffentlichen Leben, bei Mädchen und Frauen der private und häusliche Bereich im Mittelpunkt. So wurden Mädchen gewöhnlich religiös unterwiesen, lernten Lesen und erhielten Unterricht in praktischen, als spezifisch weiblich angesehenen Fertigkeiten, wie etwa in der Führung eines Haushaltes. In den Mittelmeerländern waren die Geschlechterrollen am klarsten definiert und dort galt es lange als geradezu schädlich, Mädchen mehr als die grundlegendsten Prinzipien religiöser Moral beizubringen. Diese geschlechtsspezifischen Sichtweisen sind in jenen Regionen Europas am offenkundigsten, in denen der Alphabetisierung generell ein geringerer Stellenwert beigemessen wurde. Im Süden Italiens und in Teilen Osteuropas wie etwa in Ungarn war es für beide Geschlechter ungewöhnlich, lesen und schreiben zu können. Die Bewohner dieser Gebiete verließen sich eher auf mündliche Zeugnisse und überlieferte religiöse Texte als auf Gedrucktes und Geschriebenes, eine kulturelle Einstellung, die sich erst im 19. oder gar im 20. Jahrhundert änderte. Sogar in Regionen, in denen mehr Menschen mit ihrem Namen unterschreiben konnten, griff die Landbevölkerung im Alltag meist auf mündliche Kommunikation und praktische Anleitung bzw. Übung zurück.29
Trotz aller Hindernisse, Sackgassen und Ungleichmäßigkeiten schritt die Alphabetisierung zwischen 1500 und 1800 voran. Wie wurden die neuen Fertigkeiten angewendet? Der Lesegeschmack änderte sich. Man las zunehmend weniger aus praktischen Gründen als zur Entspannung. Die Originalität und Neuartigkeit von Texten spielte eine immer größere Rolle. Es waren weniger die altbekannten und eingehend studierten Texte, die für die Vergrößerung des Marktes verantwortlich waren als die zunehmend verfügbaren, abwechslungsreicheren, flüchtigeren und der Unterhaltung dienenden Veröffentlichungen. Statt sich wie bisher auf einige wenige Texte zu konzentrieren, griffen die Leser nun zu verschiedenen Buchformen und -genres. Zwischen 1700 und 1789 wurden 1.200 Zeitschriften in französischer Sprache veröffentlicht, die mindestens ein Jahr auf dem Markt blieben. Historische Werke und Reiseliteratur wurden populärer.30 Obgleich die Alphabetisierung nach allen Gesichtspunkten im 18. Jahrhundert zunahm, konnte nicht jeder ihre Produkte genießen, aufgrund der eigenen unzureichenden Bildung oder weil Druckerzeugnisse zu teuer oder nicht erhältlich waren. Noch im Jahr 1750 gestand ein Fachmann nur zehn Prozent der Bevölkerung der deutschen Staaten die Fähigkeit zum kritischen Lesen zu, während ein anderer berichtete, dass bei Erhebungen in einem Teil Nordfrankreichs in den Jahren 1802 und 1804 weniger als fünf Prozent der Männer eine "gute Bildung" attestiert worden sei.31 Während die in vollem Umfang alphabetisierten Menschen ausgiebig Gebrauch von den neuen Möglichkeiten machten und sich einem wahren Leserausch hingaben, verharrten ihre nur halb alphabetisierten Zeitgenossen in ihrer traditionellen Geisteswelt. In seiner Autobiographie erinnert sich Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) daran, in seiner Kindheit Volksbücher über Zauberei, Ritter und Heilige gelesen zu haben, die sich über Jahrhunderte nicht wesentlich verändert hatten. Um 1800 befand sich Europa zwar unaufhaltsam auf dem Weg zur Massenalphabetisierung, doch noch immer gab es tiefgreifende gesellschaftliche Unterschiede beim Zugang und bei der Nutzung der Erzeugnisse der Alphabetisierung.
Im späten 17. Jahrhundert spielte die Alphabetisierung für das Leben der Menschen eine weitaus größere Rolle als zum Ende des 15. Jahrhunderts. Um 1800 war sie für das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben Nordwesteuropas von zentraler Bedeutung. So war sie u.a. ein entscheidendes Element des gesellschaftlichen Lebens des Bürgertums und der Eliten, das eine Grundlage der Aufklärung und der wesentliche Faktor bei der Herausbildung einer neuen, breit angelegten und kritischen politischen "Öffentlichkeit" war.32 In Salons, Kaffeehäusern und Tavernen wurden die Produkte der Alphabetisierung erdacht und entwickelt, analysiert und überarbeitet. Theater und Konzerthäuser steigerten zwar auch die Bedeutung des Mündlichen und Visuellen. Dennoch war ein neues kulturelles Universum geboren, in dem es auf eine gute Lesefähigkeit und den einfachen Zugang zu Druckerzeugnissen ankam.33 Die Alphabetisierung war zu einem entscheidenden Glied in der Kommunikationskette geworden und die Lese- und Schreibfertigkeiten wurden auf unterschiedliche Weise eingesetzt. Texte übernahmen zunehmend verschiedene gesellschaftliche und psychologische Funktionen. Die in Clubs laut vorgelesenen Texte waren speziell darauf ausgerichtet, Menschen zusammenzubringen, während das individuelle Lesen weniger als Ersatz für Geselligkeit und Interaktion fungierte, sondern diese vielmehr ergänzte.34 In einer Zeit, in der Tugend, Glück und Geschmack neue gesellschaftliche und kulturelle Bedeutungen annahmen, dienten die Tagebücher und Autobiographien des 18. Jahrhunderts zunehmend dazu, das weltliche Selbst zu erklären, zum Ausdruck zu bringen und zu vervollkommnen, statt wie noch im 17. Jahrhundert Gelegenheit zur spirituellen und moralischen Reflexion zu bieten.35
Der Wandel erfolgte langsam, doch die potentiell revolutionären Auswirkungen von steigenden Alphabetisierungsraten sind offensichtlich. Wer Buchstaben, Wörter, Redensarten und Sätze entziffern und womöglich eigene Texte erstellen konnte, dem öffneten sich viele Türen. Die konservativen Intentionen früher Bildungskampagnen wurden bald überwunden, Männer und Frauen begannen, religiöse Texte zu lesen und zu diskutieren und sich ihre eigenen Gedanken zu den durch das geschriebene Wort übermittelten Botschaften zu machen. Im Nordeuropa des 18. Jahrhunderts florierten die Zeitungen, weil sie die politischen Gegensätze der Zeit ausschlachteten, aber auch aufgrund der fortschreitenden Alphabetisierung und einer ständig wachsenden Nachfrage, was zur Herausbildung einer öffentlichen Meinung beitrug, die gut informiert war und sich zunehmend Gehör zu verschaffen wusste. In England waren Zeitungen zahlreich, weit verbreitet, preiswert und wurden im Allgemeinen nicht zensiert. Darüber hinaus bestanden sie zu einem Viertel aus Werbeanzeigen, wie es sich für ein "polite and commercial people" gehörte.36 Die französischen Zeitungen des 18. Jahrhunderts beschränkten sich beinahe ausschließlich auf von der Regierung genehmigte politische Berichterstattung. Abonnements waren teuer und die Auflagen relativ klein.37
Die Zeitungs- und Zeitschriftenpresse verweist auf die Möglichkeiten, die das geschriebene und gedruckte Wort bieten, jedoch auch auf die Abhängigkeit von bestehenden gesellschaftlichen und kulturellen Konventionen und politischen Strukturen. Fortschreitende Alphabetisierung kann vielleicht lediglich zu einer größeren Nachfrage nach dem führen, was die Menschen immer gern gelesen haben. Um 1700 waren fast die Hälfte der Bücher von Verstorbenen in neun westfranzösischen Städten fromme Schriften, während es 1789 weniger als 30 Prozent waren. Bei einer Analyse der im Besitz einfacher Stadt- und Landbewohner befindlichen Bücher in Deutschland fällt besonders die fortgesetzte Bedeutung der Religion in einem Zeitalter vermeintlich beschleunigter Säkularisierung auf. Selbst in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts befasste sich nicht mehr als ein Fünftel der Bücher der Einwohner Tübingens mit offensichtlich weltlichen Dingen und in dem württembergischen Dorf Laichingen ging der Anteil nahezu gegen Null. Die Hauptmotivation für den Erwerb und Besitz von Büchern war der lutherisch-evangelische Pietismus, nicht die Aufklärung. Das heißt nicht, dass es gar keine Veränderungen gab, denn möglicherweise interessierte sich die Bevölkerung des 18. Jahrhunderts eher für Andachten und Meditationen zum sittlichen Verhalten als für althergebrachte religiöse Themen. Dennoch waren im südwestlichen Deutschland zeitgenössische literarische Werke noch um 1800 vornehmlich in den Bibliotheken der Oberschicht zu finden.38
Schlussbemerkungen: Entwicklungen ab 1800
In den letzten beiden Jahrhunderten lieferten sich Staat und Kirche eine erbitterte Auseinandersetzung um die Kontrolle der Schlüsselressource Bildung.39 Am Ende trug der Staat den Sieg davon und ist nun die wichtigste Instanz bei der Bildungsorganisation, obwohl er eigentlich nicht für den Übergang von der eingeschränkten Alphabetisierung zur Massenalphabetisierung verantwortlich war. Er beschränkte sich hier meist auf die Verabschiedung von Gesetzen, die diesen Prozess zuließen oder regulierten, aber er stellte kaum Mittel zur Verfügung, um ihn zu fördern. Die Regierungen segneten die Lehrpläne zwar ab, beteiligten sich jedoch meist nicht oder nur in geringem Maße an ihrer Ausarbeitung. Viele Fortschritte bei der Alphabetisierung wurden durch den Staat angeregt oder erleichtert, doch die Massenalphabetisierung in den meisten Ländern Westeuropas war lange vor der Einführung der allgemeinen Schulpflicht erfolgt, weil die meisten Entwicklungen im Bildungsbereich von Eltern, Gemeinden, Kirchen und einflussreichen Persönlichkeiten vorangetrieben wurden. Nur in den "aufgeklärt absolutistischen" Staaten mit kameralistischer Politik und einem starken Bedarf an Verwaltungsbeamten und Soldaten gab es so etwas wie ein staatliches Bildungssystem.40 Doch dieses war keineswegs umfassend und die Ausbildung beschränkte sich auf die Vermittlung spezifischer Inhalte. Dies änderte sich nur langsam. Als Maria Theresia von Österreich (1717–1780) im Jahr 1774 ein Gesetz verabschiedete, das für Kinder ab sechs Jahren den verbindlichen Schulbesuch vorsah, gingen nur 30.000 wirklich zur Schule, schätzungsweise ein Sechstel der "schulpflichtigen" Kinder. Bis 1784 war die Zahl auf 119.000, etwa drei Fünftel, bis 1828 auf neun Zehntel der Kinder im schulpflichtigen Alter angestiegen. Die Pläne Josephs II. (1741–1790), Grundschulgebühren generell abzuschaffen, stießen wegen der Kosten auf Widerstand, und die Auseinandersetzungen endeten mit einem Kompromiss, der Jungen den kostenlosen Schulbesuch ermöglichte, während Eltern für die Schulbildung ihrer Töchter bezahlen mussten.41
Die Alphabetisierung des neuzeitlichen Europa lässt sich nicht verstehen, ohne die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kräfte in Rechnung zu stellen, die diese historische Entwicklung förderten oder behinderten. Erst im späten 19. Jahrhundert wurde der regelmäßige und längere Schulbesuch für britische Kinder zu einem integralen Bestandteil des Bildungsweges, in Ost- und Südeuropa erst ab 1945. Um 1900 war Westeuropa in einen alphabetisierten, wirtschaftlich entwickelten und vornehmlich protestantischen Norden, ein Zentrum mit ausgeprägten regionalen Unterschieden, insbesondere in Frankreich, und einen weniger alphabetisierten, unterentwickelten Süden, vor allem Italien, geteilt. In weiten Teilen Osteuropas waren die Verhältnisse ähnlich wie im tiefen Süden. Ein besonders extremes Beispiel für einen streckenweise quälend langsamen Wandel und eine späte Massenalphabetisierung ist Portugal. Im Jahr 1890 waren 76 Prozent der Einwohner über sieben Jahre Analphabeten, ein Anteil der 1900 nur leicht auf 74 Prozent und bis 1911 auf 70 Prozent sank. Im Jahr 1930 lag der Anteil noch immer bei 68 Prozent und erst in den 1940er Jahren konnte mehr als die Hälfte der portugiesischen Bevölkerung lesen und schreiben – über 100 Jahre nachdem England und 150 Jahre nachdem Nordwestdeutschland und die schottischen Lowlands diese Schwelle erreicht hatten. Die Entwicklungen der Frühen Neuzeit waren subtiler, führten aber zu ähnlich lang bestehenden Unterschieden, selbst in Ländern, die um 1800 beinahe eine allgemeine Alphabetisierung erreicht hatten. Noch 1921 konnten 30 Prozent der Finnen nicht lesen und schreiben, ein niedrigerer Entwicklungsstand als im damaligen Italien.42 Die Nachwirkungen der frühneuzeitlichen Alphabetisierung sind noch heute spürbar.
Anhang
Literatur
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