Johannes Kepler: Astronomie als Theologie der Schöpfung@Johannes Kepler@(BE)@freigabe

erstellt von EGO-Redaktion last modified 2020-05-25T10:24:23+01:00

Originalbeitrag

Die aufkommende moderne Naturwissenschaft stellt die Struktur der mittelalterlichen Einheitskultur in Frage. Das Weltbild ändert sich. Das verändert auch die Denkfiguren der Theologie. Unterschiedliche dogmatische Systeme sind die Folge. Johannes Kepler (1571–1630) versucht, über eine neue Schöpfungstheologie zu einer neuen Einheit zu kommen. Das ist das Ziel seiner astronomischen Arbeit. Geht es um die Struktur, den "Plan" von Gottes Schöpfung, ist äußerste Genauigkeit ihrer Erforschung gefordert. Die Mathematik ist dazu das Instrumentarium. Die Kepler'schen Gesetze sind ein Ergebnis so bestimmter Forschung. Damit entstehen neue Perspektiven sowohl für die Naturwissenschaft als auch für die Theologie.

Die Fragestellung: Der Weltbildwandel

Im 16. und 17. Jahrhundert ist die abendländische Welt im Umbruch. Die antiken und mittelalterlichen Vorstellungen von der Welt, ja vom ganzen Kosmos sind in Auflösung begriffen: Neue Erdteile sind entdeckt worden, der Himmel öffnet sich ins Unendliche, die Reformation hat in Europas Mitte das religiöse und politische Leben verändert, neue Philosophien kommen auf – die Einheit der Kultur ist am Zerbrechen.

Eine herausragende Gestalt in dieser Wendezeit ist Johannes Kepler (1571–1630)[Johannes Kepler IMG]. Einerseits ist er noch ganz der überlieferten geistigen Tradition seiner Zeit verbunden – der Kosmos stellt sich ihm als eine ideal konzipierte, in sich geschlossene Kugelgestalt und in harmonischen Proportionen dar. Andererseits eröffnen sich ständig erweiternde empirische Erkenntnisse ganz neue Perspektiven und stellen das alte Weltbild in Frage. Daraus erwachsen existentielle Fragen: Hat der Mensch noch eine von Gott bestimmte Heimat in der Mitte des Kosmos? Oder ist er dazu verdammt, ziellos in der Unendlichkeit des Universums sein Leben zu fristen? Die zeitgenössische Theologie versucht, aufkommender Weltangst entgegen zu treten, indem sie in Auslegung der Heiligen Schrift, der Bibel, dogmatische Lehrsysteme entwickelt, die aus dem christlichen Glauben heraus Orientierung vermitteln sollen. Als Denksysteme sind solche Dogmatiken aber auch von historischen Traditionen und sozialen Strukturen und damit auch von bestimmten Philosophien geprägt. Unterschiedliche kulturelle Vorgaben lösen notwendigerweise auch Kontroversen aus. Wenn es um religiöse Orientierung geht, ist das besonders schmerzlich. Im Streit der christlichen Konfessionen, zwischen lutherischen, calvinischen, römisch-katholischen und ostkirchlich geprägten Christen tritt das zu Tage. Kepler leidet darunter. Angeregt durch astronomische und mathematische Studien, versucht er ein eigenes, auf der Höhe seiner Zeit stehendes kosmologisches System zu entwickeln – zum Lobe Gottes, des Schöpfers. Es gewinnt damit theologische Qualität. Kepler knüpft daran die Erwartung, dass sein Konzept zur Einigung der zerstrittenen Konfessionen beitragen kann.

Das überkommene Weltbild: Der geozentrische Kosmos

Um diese Situation und die weitere Entwicklung zu verstehen, ist ein Blick auf das bis dahin überlieferte Weltbild notwendig. Das Weltverständnis des Mittelalters verband bis in die Frühe Neuzeit hinein astronomische, philosophische und theologische Daten und Gesichtspunkte eng miteinander. Der sichtbare Sternenhimmel wurde interpretiert einerseits im Anschluss an die antike Tradition (Vorsokratiker, Platon (427–347 v.Chr.), Aristoteles (384–322 v.Chr.), Ptolemäus (ca. 100–178)), andererseits in Abstimmung mit der biblischen Überlieferung. Platonisches Grundmodell ist die Kugel. Die Erde, bestehend aus den vier Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer, ist die Mitte des Kosmos, kreisförmig umrundet von der Mondbahn. Es folgen in der Ebene der Ekliptik die Kreisbahnen der inneren Planeten Merkur und Venus, sodann die Sonne, Mars, Jupiter und Saturn. Das Ganze wird umgeben von den Kugelschalen der Fixsterne. Sie werden zum Rotieren gebracht von dem selbst unbewegten Ersten Beweger, dem aristotelischen Gott als prima causa. Die Bewegung der Fixsternsphäre setzt sich nach innen fort in sukzessivem Antrieb der Planeten bis hin zum Mond. Das Medium dieser Bewegungen ist die quinta essentia, der Äther, der die Himmelskugel ausfüllt.Das geozentrische Weltbild IMG

Nach mittelalterlicher Vorstellung ist die sublunare Welt vergänglich. Sie ist aber eingebettet in die unvergängliche, ewige Schöpfung des Himmels, bestehend zunächst aus den Planetenkreisen und dann den Fixsternen. Zusätzlich ist die Schöpfungskugel umgeben von einem Kristallhimmel und der Sphäre des primum mobile, des "Ersten Beweglichen". Damit ist einerseits der Schöpfungserzählung von Genesis 1,7 Rechnung getragen: Die oberhalb des Firmaments gebändigten Wasser können in gefrorenem Zustand jenseits der empirisch wahrnehmbaren Fixsternsphäre gedacht werden. Andererseits kann der philosophischen Gottesvorstellung Genüge getan werden, wenn der Erste Beweger als Erstes Bewegliches und damit zur Schöpfung gehörig eingeordnet wird. Jenseits dieser Weltkugel kann dann der unbegrenzte Wohn- und Residenzort Gottes des Schöpfers und seines himmlischen Hofstaats, vornehmlich der Engel, vorgestellt werden: der empyreische Himmel (coelum empyreum). Von dort aus, alles umfassend, lenkt Gott das Schöpfungsgeschehen. Auch die Erzväter, die Heiligen und Seligen, allgemein die Menschen, die "in den Himmel gekommen" sind, haben hier ihren Ort gefunden. Hartmann Schedel (1440–1514) hat dieses Bild des Kosmos in seiner Weltchronik 1493 zusammenfassend dargestellt.Schedel'sche Weltchronik IMG Natürlich wird es im Einzelnen von den mittelalterlichen Schriftstellern in vielfältiger Weise variiert. Doch hat sich seine Grundstruktur spätestens seit Johannes Philoponos (ca. 490–ca. 570) im 6. Jahrhundert durchgesetzt, im Einklang mit alexandrinischer Tradition und gegen ein eher einseitig biblizistisches Weltbild, wie es die theologische Schule von Antiochia vertreten hatte oder etwa von dem alexandrinischen Kaufmann und Weltreisenden Kosmas Indikopleustes (6. Jh.) entwickelt worden war.1 Transzendiert und damit naturkundlich relativiert wurde dieses Weltbild mehrfach. Weitreichenden Einfluss gewann die Philosophie des Nicolaus Cusanus (1401–1464).2 In seinen spekulativen Meditationen über die Unendlichkeit wird die absolute Einheit des Kosmos zum Realsymbol der Trinität. An der Kugel zeigt sich die Dreiheit von Oberfläche, Mittelpunkt und Inhalt wie das Verhältnis von Vater, Sohn und Heiligem Geist in der christlichen Tradition. Kepler hat diese Symbolik im Blick auf den aristotelischen Kosmos aufgenommen, ohne dessen endliche Begrenzung aufzugeben. Cusanus geht noch platonisch von einer geometrischen Grundstruktur der Schöpfung aus, sieht in ihr jedoch ein Abbild der umfassenden Wirklichkeit Gottes. Damit geht der Blick schon ins Unendliche, und der Akzent liegt auf der Bedeutung des Seienden, die auch die empirische Wahrnehmung der Wirklichkeit überhöht. Die Möglichkeit einer genaueren Analyse und rationalen Erklärung wird damit ein Stück weit freigelegt. Für Cusanus ist die Erde bereits ein Stern unter Sternen.3 Kepler nimmt solche Denkmöglichkeiten auf, hält sich aber nach wie vor an den begrenzten, empirisch zu beobachtenden und kugelförmig erscheinenden Weltraum und versucht, ihn rational zu erschließen. Die Welt bleibt dabei Schöpfung des dreieinen Gottes. Weitergehende ontologische Festschreibungen weltbildhafter Aspekte, wie dann etwa im Geiste einer umfassenden theologischen Philosophie, stünden dem entgegen. So kann auch die Philosophie Keplers schwerlich als feststehende theologische Weltanschauung fixiert werden.4

Die Ontologisierung des Weltverständnisses im Sinne einer substantiellen Festlegung ist die Voraussetzung und Quelle der massiven Auseinandersetzungen um das kopernikanische System gewesen, dann noch einmal verschärft bei der Auflösung der klassischen Kosmologie überhaupt durch Giordano Bruno (1548–1600). Die Interpretation des Zusammenhangs von Himmel und Erde war in der mittelalterlichen Tradition nicht nur ein Thema von Astronomie, Astrophysik und philosophischer Theorie, sondern zugleich die Voraussetzung für das Verständnis der Natur- und Gesellschaftsordnung. Die hierarchische Struktur der Himmelssphären, die sich schon in der Hierarchie der vier irdischen Elemente und, im Anschluss daran, der quinta essentia niederschlägt, war philosophisch und theologisch die Basis sowohl der weltlichen wie der geistlichen Gesellschaftshierarchie. Diese reichte vom einfachen Tagelöhner über die mittleren Rangstufen bis hinauf zu den Königen und zuletzt zum Kaiser; ebenso aber vom einfachen gläubigen Christen über Priester, Bischöfe und Kardinäle bis hinauf zum Papst. Kaiser und Papst residierten "unten" auf der Erde, repräsentierten aber letztlich die Herrschaft Gottes über seine Schöpfung. Sein Geist inspiriert von "oben" herab das Leben in der Welt. Die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst über die faktische Vorherrschaft zeigen den Ernst dieser Vorstellungen. Die historische Weltordnung war schöpfungstheologisch, also letztlich kosmologisch entsprechend der damaligen Anschauung des Kosmos begründet.

In der substanzontologischen Festschreibung mittelalterlicher Denkschemata in aristotelischer Tradition und deren juristischer Weiterführung einerseits und in den kreativen Impulsen lebendiger Frömmigkeit, Theologie und Philosophie andererseits liegen wesentliche Gründe für die geistigen und gesellschaftlichen Umbrüche zu Beginn der Neuzeit in Renaissance und Reformation. Die Fortschritte der Philosophie und der Wissenschaften eröffneten neue Perspektiven und Wahrnehmungen, denen die überlieferten Strukturen nicht mehr genügten und die sie in Frage stellten. Das gilt grundlegend auch für den Bereich der Astronomie und Kosmologie. Die Fülle neuer Beobachtungen und die damit zusammenhängenden Erkenntnisse erforderten die Erschließung wirkender Ursachen und entsprechender Bedingungen. Von der Erde aus gesehen bewegen sich die Planeten beispielsweise von Zeit zu Zeit rückläufig, um dann wieder in die ursprüngliche Richtung einzuschwenken. Das versuchte man durch die Annahme mehrerer Epizykel zu erklären: Kreisbahnen, die ihren Mittelpunkt auf der ursprünglich angenommenen idealen Kreisbahn des Planeten hatten. Ein Epizykelkreis reichte dann nicht aus; auf ihm mussten weitere Kreise angenommen werden. Zuletzt waren es 48. Das konnte nicht mehr überzeugen. Zu viele Hilfsannahmen machten das vorausgesetzte kosmologische System zunehmend unglaubwürdig. Auch die Entfernung und relative Statik der Fixsternsphäre, zudem auch die Vielzahl der beobachteten Sterne ließen nach neuen Lösungen suchen.

Dazu kamen kulturgeschichtlich bedingte Fragen. Wie war der Himmel vorzustellen, wenn auch für den geschöpflichen Kosmos Unendlichkeit ins Spiel gebracht wurde? Von gravierender Anstößigkeit war schon in der Vorstellung des geschlossenen Kosmos die überlieferte Meinung gewesen, dass sich inmitten der Erde und damit zugleich im Zentrum der gesamten Schöpfung die Hölle befinden sollte, logisch plausibel in der größtmöglichen Entfernung von Gott und anschaulich in den Phänomenen des Vulkanismus, emotional und der Vorstellung nach jedoch schwer erträglich in der Mitte des Alls. Der Sonne dagegen kam religionsgeschichtlich und als ursprünglicher Quelle des Lichts schon für das spontane Empfinden eine zentrale Stellung zu. Diese musste nun auch im Weltbild verifiziert werden. Die Bedeutung der Erde als Lebensraum des zum Ebenbild des Schöpfergottes geschaffenen Menschen konnte auch durch ihre zentrale Stellung inmitten der Planetenbahnen gewahrt werden; von dort aus konnte der Kosmos im ganzen am besten überblickt werden, wie Kepler ausführte. Die astronomischen Berechnungen und die theologischen wie philosophischen Gesichtspunkte waren Motive genug, der Zentralstellung der Sonne den Vorzug gegenüber dem überlieferten ptolemäischen Geozentrismus zu geben. Das Werk des Nikolaus Kopernikus (1473–1543) steht dafür.5 Zu Kopernikus' grundlegendem Werk De revolutionibus orbium coelestium (1543) schrieb der Nürnberger Theologe Andreas Osiander (1498–1552), der die Überwachung des Drucks übernommen hatte, ein von Kopernikus nicht autorisiertes Vorwort, das die Frage aufwirft, ob das neu entworfene heliozentrische System als bloße astronomische Hypothese oder als realistische Abbildung der Wirklichkeit aufgefasst werden muss. Kopernikus und ebenso dann Kepler traten auf dem Boden ihres Wirklichkeitsverständnisses mit Nachdruck für ein realistisches Verständnis ein. Das entspricht naturwissenschaftlich erschlossener Objektivität ebenso wie den erwähnten philosophischen und theologischen Gesichtspunkten. Die dort entwickelte trinitarische Symbolik lässt zudem nominalistische Überlegungen gar nicht zu. Doch bleibt es das Verdienst Osianders, die wissenschaftstheoretische Frage nach dem Geltungsbereich wissenschaftlicher Aussagen auch im Blick auf Astronomie und Kosmologie neu aufgeworfen zu haben.

Die ontologischen Festschreibungen im Geiste der vornehmlich aristotelischen Metaphysik im allgemeinen Denken wie in der kirchlichen Lehre hatten im mittelalterlichen Kirchenwesen und ebenso in der weltlichen wie kirchlichen Gesellschaftsordnung ihre Auswirkungen bis hin in das alltägliche Leben. Die Juridifizierung der Beicht- und Bußpraxis in den Kirchen bestimmte die Lebensorientierung auch über das irdische Leben hinaus und prägte damit weitgehend das Lebensgefühl. Dante Alighieris (1265–1321) Divina Commedia zeigt in ihrer dichterischen Weite, wie eng gerade auch Kosmologie und Kultur geschichtlich miteinander verbunden waren. Furcht vor der Hölle, die Vorstellung vom Fegfeuer und endlichem Eingang in das Ewige Leben im Himmel bildeten den Horizont des irdischen und dann des künftigen Lebens. Die Kommerzialisierung des Ablasses verschärfte den Druck auf das jeweils persönliche Leben bis hin zur Belastung der Gewissen. Diese Situation war der entscheidende Auslöser der reformatorischen Bewegung. Gerade die kosmologischen Konnotationen von Hölle und Himmel drohten das irdische Leben zu verwirren. Die grundlegende Reinterpretation der biblischen Texte mit dem Blick auf das Evangelium der Befreiung von Schuld und Sühne eröffnete freie Lebensperspektiven unabhängig von weltbildhaft geprägten Fixierungen, zumal in Erwartungen des Jenseits. Martin Luther (1483–1546) konnte in einer Predigt (1526) formulieren:

Also ist die Welt voll Gottes. In allen Gassen, vor deiner Tür findest du Christus. Gaff nicht in den Himmel und sprich: 'Ei sollt ich unseren Herrgott einmal sehen, wie wollte ich ihm alle mögliche Dienste erweisen'.6

Wenn Luther angesichts der Tradition und insbesondere aufgrund der Texte in Josua 10, 12–13 und anderer Bibelstellen7 Kopernikus für einen Narren hielt, so war es doch die Wittenberger Universität, die den jungen Mathematiker Georg Joachim Rheticus (1514–1574) zu Kopernikus nach Frombork schickte, um die neue Astronomie kennen zu lernen. Er war es dann auch, der den Druck von De revolutionibus in Nürnberg betrieb. Entscheidend war: Das Heil und die Stellung der Kirche hingen nicht mehr an naturkundlichen Vorgaben. Die Wissenschaft sollte ihren eigenen Weg einschlagen. Diesen Weg ist Kepler gegangen. Zwar setzt auch Kepler noch die überkommenen Strukturen des alten Weltbildes voraus, wobei er allerdings die Sonne in das Zentrum dieses Kosmos setzt und sich dabei Kopernikus anschließt, dessen System er während des Theologiestudiums in Tübingen durch den Astronomen Michael Mästlin (1550–1631) kennenlernte. Neu vor allem ist aber die Weise, wie Kepler die astronomischen Daten zu erklären versuchte.

Methodische Klärung: Die Eigenwege von Theologie und Naturwissenschaft

Kepler hat die Auffassung geteilt und selbst ausdrücklich vertreten, dass biblische Texte der Lebensführung, nicht der kausalen Naturerkenntnis dienen.8 Diese folgt ihren eigenen Gesetzen. Nimmt die Bibel in Erzählungen natürliche Anschaulichkeit in Anspruch, so tut sie das um der Verständlichkeit für den Leser und Hörer willen, sie "akkommodiert" sich den Adressaten. Daraus ergibt sich auch eine neue, kritische Art der Bibelauslegung, die geltende Naturerkenntnis berücksichtigt. Sie hat die historisch-kritische Methode in der Bibelwissenschaft mitbegründet.9 Die protestantische Schulphilosophie nahm freilich ihrerseits die aristotelische Tradition auf.10 Die Naturwissenschaft konnte von hier aus fortschreiten und neue, eigene Denkmodelle entwickeln. Die astronomische Forschung und astrophysikalische Überlegungen gewannen allerdings eine eigene Dynamik, die Fragen nach dem Verhältnis zu geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen aufwarf. Das Lebenswerk Johannes Keplers ist ein eindrucksvolles Zeugnis davon.

Die neuaristotelische Schulphilosophie prägte in der zweiten Hälfte des 16. und im 17. Jahrhundert von neuem auch die protestantische Dogmatik und Kirchenlehre. Das führte in der Theologie zu neuen Problemstellungen. Sie zeigten sich markant in den interkonfessionellen Auseinandersetzungen, innerhalb des Protestantismus insbesondere zwischen lutherischer und reformierter Theologie und Kirchenlehre. Diese Differenzen und vor allem die sich daraus entwickelnden Streitigkeiten widersprachen fundamental Keplers christlicher Frömmigkeit. Sie waren für ihn ein entscheidender Anstoß, sich von der Theologie ab- und der Astronomie als Lebensberuf zuzuwenden.

Als konkreter Anlass ergab sich die Berufung zum Mathematiklehrer und Landschaftsmathematicus 1594 nach Graz. Ursprünglich wollte Kepler Pfarrer werden; nach dem Besuch der württembergischen Landschaftsschulen in Adelberg und Maulbronn und der Artistenfakultät in Tübingen hatte er dort 1591 mit der theologischen Ausbildung begonnen. Doch die Polemik der lutherischen Prediger gegen die Reformierten stieß ihn ab; vielmehr überzeugten ihn eher die Lehrsätze der Reformierten, die von den lutherischen Predigern angegriffen wurden. Das belastete seine Frömmigkeit, zumal beim Gang zum Abendmahl. Eine 1597 in ein Selbsthoroskop gefasste autobiographische Darstellung11 dieser existentiellen Erfahrung beleuchtet auch die Grundorientierung, die Vorgaben und die Ausrichtung seiner späteren wissenschaftlichen Arbeit.

Die religiöse Grundhaltung ist die eine, die wissenschaftliche Exaktheit die andere Seite von Keplers Wirken. Beides ist zu unterscheiden, wie seine Bibeldeutung belegt. Unterschieden werden kann aber nur, was auf andere Weise zusammengehört: Kepler war der Meinung, um der Ehre Gottes des Schöpfers willen auf Exaktheit seiner wissenschaftlichen Arbeit verpflichtet zu sein. Denn diese betraf die von Gott der Natur eingestiftete Gesetzlichkeit, letztlich also den Plan Gottes mit und für seine Schöpfung. Hier wäre Ungenauigkeit Sünde gewesen, mangelnde Ehrerbietung gegenüber dem göttlichen Weltarchitekten. Für Kepler ist das der eigentliche Grund für das Ethos nicht nur theologischer, sondern ebenso exakter naturwissenschaftlicher und so dann auch astronomischer und philosophischer Arbeit. Das nun war – und ist – Kausalforschung im engeren Sinne, nicht die Suche nach dem letzten Grund des Seienden überhaupt, sondern nach den empirisch erschließbaren Sinn- und Wirkungszusammenhängen.

Der Sinnzusammenhang der Welt: Harmonik

Was hält die Welt zusammen? Wie ist sie aufgebaut, sind Konstruktionsprinzipien erkennbar? Warum ist sie so, wie sie ist, und wozu? Das sind Fragen, die den menschlichen Geist von Natur aus beschäftigen. Kepler geht ihnen in Graz nunmehr als Mathematiker nach. Die weitergehende, grundlegende Frage: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts, liegt dem zwar voraus und bleibt im Hintergrund relevant, gehört aber einer anderen, höheren Dimension an und braucht im Rahmen der naturwissenschaftlichen Kausalforschung nicht verfolgt zu werden. Für Kepler ist sie mit der philosophischen und theologischen Tradition durch den Hinweis auf Gott, den Schöpfer, beantwortet. Das Gegebensein der Welt, von Himmel und Erde, ist somit ein Phänomen, das nicht weiter hinterfragt werden muss und kann. Wohl aber gehört die Erschließung erkennbarer Strukturen in der Welt zu den Möglichkeiten, denen die menschliche Vernunft nachzugehen in der Lage ist. Hier sieht Kepler seine Aufgabe und Verpflichtung.

Die jüdische und christliche Glaubenserfahrung, wie sie in den Büchern der Bibel bezeugt wird, ist stets auch mit Gotteserfahrungen im natürlichen Leben in Zusammenhang gebracht worden. Theologisch ist auf diesem Hintergrund Gottes Offenbarung im Buch der Bibel schon früh die Offenbarung des Schöpfers im "Buch der Natur" an die Seite gestellt worden.12 Hierauf beruft sich Kepler: Er sucht in der Natur, in den Maßen und Bewegungen des Himmels, Gottes Wege zu finden und zu erschließen. Dieses Interesse kann sogar so weit gehen, dass er hofft, auf diese Weise die Folgen des Sündenfalls abmindern, ja beseitigen zu können: Wahre Naturerkenntnis erschließe den Blick auf die Schöpfung, so, wie Gott sie gemeint hat.

Bestätigt in diesem Interesse hat Kepler eine Entdeckung, die für ihn, wie er meinte, das Konstruktionsgeheimnis der Schöpfung erschloss: das Mysterium cosmographicum, ein Weltmodell, das er dann auch künstlerisch nachbauen lassen konnte.Modell von Keplers Mysterium Cosmographicum IMG In Graz kam er auf den Gedanken, die fünf regulären geometrischen Körper, die nach Platons Timaios als Grundideen für den Aufbau der Wirklichkeit galten, mit der Struktur des Planetensystems in Verbindung zu bringen. Die Abstände der Planetenbahnen voneinander, zwischen Sonne und Fixsternsphäre, versuchte er dadurch zu erklären, dass er ihnen die regulären Körper zuordnete:

Die Erde ist das Maß für alle anderen Bahnen. Ihr umschreibe einen Zwölfflächner; die diesen umspannende Sphäre wird der Mars sein. Der Marsbahn umschreibe einen Vierflächner; die diesen umspannende Sphäre wird der Jupiter sein. Der Jupiterbahn umschreibe einen Würfel; die diesen umspannende Sphäre wird der Saturn sein. Nun lege in die Erdbahn einen Zwanzigflächner; die diesem einbeschriebene Sphäre wird die Venus sein. In die Venusbahn lege einen Achtflächner; die diesem einbeschriebene Sphäre wird der Merkur sein. Da hast du den Grund für die Anzahl der Planeten.13

Damit meinte Kepler den Bauplan der Schöpfung gefunden zu haben. Dies war für ihn aufgrund der philosophischen und wissenschaftsgeschichtlichen Vorgaben seiner Zeit Ergebnis rationaler Forschung, zugleich aber auch das Ereignis göttlicher Offenbarung: Der Schöpfer hatte sich selbst in seinem Schöpfungsplan zu erkennen gegeben. Diesem liegt die Geometrie zu Grunde. Kepler verstand diese Offenbarung als Berufung: Berufung zum Priester am Buch der Natur. Ihr folgte er im Dienst Tycho Brahes (1546–1601) und Rudolfs II. (1552–1612) von 1600 bis 1612 in Prag und dann, von 1612 bis 1626, im Dienst der oberösterreichischen Stände in Linz.

Als seine eigentliche Aufgabe sah er es nunmehr an, den Schöpfungsplan Gottes weiter zu erforschen und zu explizieren. Mit (undifferenziert pejorativ verstandener) "Mystik" hat seine Kosmologie, wie oft unterstellt, wenig zu tun; hier liegt vielmehr – modern formuliert – im Bereich von Astronomie und Astrophysik – ein Ausgangspunkt rationaler Naturwissenschaft. Diese ist für ihn Gottesdienst. Das schließt den Gottesdienst, der dem Buch der Bibel folgt, keineswegs aus: Kepler nimmt an ihm teil, ja er kämpft um die Teilnahme am Abendmahl und verfasst schließlich einen Abendmahlskatechismus für seine Kinder und sein Hausgesinde.14 Buch der Bibel und Buch der Natur ergänzen sich: Ersteres ermöglicht eine Grundorientierung, die die Arbeit an Letzterem geradezu inspiriert.

Keplers auf die Grazer Modellierung folgenden Publikationen legen, wiederum in ihrem zeitgenössischen Kontext, erste Ergebnisse seines durch sie gewonnenen, in doppeltem Sinn historischen Forschungsansatzes vor. Ein Meilenstein moderner Astronomie ist die Astronomia nova von 1609, die die ersten beiden später nach Kepler benannten Planetengesetze enthält: Die Planeten bewegen sich auf Ellipsen, in deren einem Brennpunkt sich die Sonne befindet; der von der Sonne zu einem Planeten gezogene Fahrstrahl überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen.15 Kepler legt in weit ausladender Ausführlichkeit die verschlungenen Wege und Irrwege seiner Forschungen und Überlegungen vor – ein eindrucksvoller indirekter Beleg auch der theologischen Verankerung und Verantwortung seiner Arbeit. "Die Gesetze … ließen sich als ein Nachvollziehen dessen begreifen, was im Geiste Gottes vorhanden und in der Schöpfung realisiert ist."16

In Keplers zweitem umfassenden Hauptwerk, der Harmonice mundi von 161917 wird der Grundansatz des Mysterium cosmographicum erheblich ausgeweitet und naturphilosophisch bis hin zu wichtigen Beiträgen zur Musiktheorie weitergeführt. Dabei ergibt sich auch das dritte Kepler'sche Gesetz: Die Quadrate der Umlaufzeiten verschiedener Planeten verhalten sich wie die Kuben der halben großen Achsen ihrer Bahnen. Das ursprüngliche Modell wird aber auch in einer zweiten Auflage des Mysterium cosmographicum 1621 aufgrund der neuen Erkenntnisse noch einmal erläutert und erweitert.18 Der zunächst kreisförmige Schnitt der Kosmoskugel und der Planetenbahnen kann durch eine Erweiterung der jeweiligen Schalendicke die elliptische Bahngestalt aufnehmen, die Kepler in seiner Astronomia nova entdeckt und dargestellt hat.

Physik und Metaphysik: Eine neue Weltsicht entsteht

Die christliche Grundorientierung des Denkens und der naturwissenschaftlichen Arbeit Keplers zeigt sich auch in anderen Zusammenhängen. Die Metaphysik des Lichts ist hier besonders hervorzuheben.19 Die Kugel, die in ihren Elementen bildhaft die Trinität symbolisiert, ist zugleich Urbild (archetypus) des Lichts. In der Sonne als zentralem Weltkörper wird diese Wirklichkeit in vollkommener Schönheit sichtbar. Von ihr gehen in Form von "Quantitäten" die Lichtstrahlen aus, die als immaterielle Kraft die Planeten in ihrem Umlauf in Gang setzen. Kepler spricht in diesem Zusammenhang von species immateriata. Auf diese Weise kann die Bewegung des Lichtes selbst erklärt werden. Sie verläuft als gradliniges Ausströmen nach den Gesetzen der Geometrie. Die Fixsterne reflektieren das Licht der Sonne. Später schreibt Kepler allerdings den Sternen eigenes Licht zu; sie seien, wie bei Bruno, selbst Sonnen.20 Die Gesamtheit der Fixsterne spiegelt dann das Licht der zentralen Sonne, Symbol Gottes des Vaters, wieder. Das Verhältnis der Sonne zur Oberfläche der Fixsternsphäre symbolisiert die Beziehung Gottvaters zum Sohn.

Vom Licht hängt dann die Wärme ab. Der Körper hat seine Wärme von der Sonne, nicht von sich selbst. Auch das lässt sich theologisch deuten: Die Schöpfung lebt nicht aus sich selbst. Aus solchen Überlegungen ergibt sich zwingend die Endlichkeit der Welt als Schöpfung; hier streitet Kepler wider Giordano Bruno. Für die Praxis ergaben sich schließlich aus Keplers Berechnungen grundlegende Beiträge zur physikalischen Theorie der Optik.21 Die Theorie des Fernrohrs und anderer zusammengesetzter Linsensysteme gehört dazu.

Vorgaben zur Bestimmung der Natur des Lichts in der Naturphilosophie bot die Seelenlehre: Seelische Kraft belebt den Kosmos, sie bewirkt die Rotation der Himmelskörper. In die Erdseele ist der Tierkreis eingeprägt; daraus ergeben sich Sympathien zwischen Gestirnskonstellationen und irdischem Leben. In solchen Begründungszusammenhängen erscheint die Astrologie als seriöse Wissenschaft. In einer als Einheit gedachten und wahrgenommenen Naturordnung besteht zwischen allem eine gegenseitige Entsprechung; der Mensch spiegelt als Mikrokosmos die Ganzheit des Makrokosmos wieder. Auch für Kepler besitzt die Erde und ebenso der Mensch ein seelisches Vermögen, das von den Gestirnsstrahlen angeregt wird.22 Daraus ergeben sich Dispositionen und Prägungen, aus denen jedoch kein prognostizierbares Schicksal abgeleitet und festgeschrieben werden kann. Mit ihnen muss vielmehr im konkreten Lebenszusammenhang bewusst und verantwortlich umgegangen werden. Keplers Horoskope können so geradezu seelsorgerlichen Charakter gewinnen.

Auch das Licht ist ein "Abkömmling der Seele".23 Doch die gedankliche Entwicklung tendiert vom Seelen- zum Kraftbegriff. In der zweiten Auflage des Mysterium cosmographicum vermerkt Kepler ausdrücklich, dass sich aus dem Kraft- statt des Seelenbegriffs für die Himmelsbewegungen eine einleuchtende physikalische Erklärung ergibt.24 In Korrespondenz zur praktischen Arbeit des Mathematikers und Astronomen folgt Keplers Naturphilosophie durchgehend dieser Tendenz. Leitfaden ist wie bereits in der mittelalterlichen Tradition – bis hin zum Kirchenbau als Abbild der Schöpfung – der Spruch aus dem apokryphen Buch der "Weisheit Salomos": "Du aber hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet" (11,20). Die der Schöpfung durch den Schöpfer eingepflanzten mathematischen Archetypen treten in der Wirklichkeit als materiell zu betrachtende Quantitäten in Erscheinung. Der menschliche Geist kann sie erfassen. Von der Empirie möchte Kepler auf diese Weise weiter zu den Ursachen, vom Sein der Dinge zu den Gründen ihres Seins und Werdens vordringen.25 Die Ableitungen von Figurationen und Proportionen geometrischer Größen sind dabei von grundlegender Bedeutung, ihrer Regelhaftigkeit gilt es nachzugehen. Die sinnvolle Ordnung der Natur lässt neben den causae efficientes nach den causae finales in ihr fragen. Dabei kann und soll die Vollkommenheit der Schöpfung als Abbild und Lobpreis der Vollkommenheit des Schöpfers als letzter Zweck und letztes Ziel des Seienden verstanden werden. Als dem Schöpfer ebenbildliche Natur ist die Schöpfung in diesem Sinne qualitativ unendlich; "extensional, also ihrer Quantität und Ausdehnung nach ist sie ein maßvoll strukturiertes Endliches und in dieser Seinsverfasstheit vollkommen".26

Keplers letztes großes Werk waren die Rudolphinischen Tafeln,Frontispiz der "Tabulae Rudolphinae" IMG ein Sternkatalog, mit dessen Tabellen geozentrisch die jeweiligen Orte der Planeten berechnet werden konnten.27 Schon von Tycho Brahe 1600 geplant, lag das Werk 1627, nach vielerlei widrigen Umständen in Ulm gedruckt, vor. Diese Tafeln wurden zum Standardwerk auch für die Seefahrt; mit ihrer Hilfe konnte die jeweilige Position von Schiffen präzise bestimmt werden.

In den katholischen Ländern von Ausweisung bedroht, fand Kepler 1628 mit seiner Familie eine Bleibe und einen Arbeitsplatz unter dem Patronat Albrecht von Wallensteins (1583–1634) in Sagan (Schlesien). Hier arbeitete er vor allem am letzten Teil seiner Ephemeriden von 1617–1636, der jahrgangsweisen Bestimmung der genauen Orte von Sonne, Mond und Planeten auf der Grundlage der Rudolphinischen Tafeln und damit seiner Planeten- und Mondtheorie.28 Hier kam, freilich postum, auch sein Somnium, der "Traum vom Mond" zur Drucklegung, eine märchenhafte Einkleidung zukunftsträchtiger Spekulationen zur Weltraumfahrt.29 Auf dem Gelände des ehemaligen Friedhofs, auf dem Kepler nach seinem Tod 1630 in Regensburg beigesetzt wurde und der alsbald in den Kriegswirren verwüstet wurde, steht heute ein stilisiertes Denkmal nach dem Vorbild des Frontispizes der Rudolphinischen Tafeln.

Theologie: Gott spricht auch in der Natur

Seiner grundlegend an Harmonien orientierten Überzeugung folgt Kepler auch in seinen theologischen Überlegungen. Der Streit zwischen den christlichen Konfessionen, den Orthodoxien seiner Zeit, widerstrebt ihm zutiefst.30 Innerhalb seines Weltbildes sind sie ihm unverständlich. Das zeigt sich insbesondere in der Auseinandersetzung mit seinen theologischen Lehrern und Gesprächspartnern wie mit den Kirchenoberen, die die konfessionell orthodoxe lutherische Lehre vertreten. Nachdem auf katholischer Seite in Trient das gegenreformatorische tridentinische Bekenntnis formuliert worden war (1545–1563), wurden 1577 in der Konkordienformel die bis dahin schwelenden Kontroversen im Sinne der lutherischen Theologie beigelegt. Zugleich wurden die abweichenden Lehrmeinungen "verworfen und verdammt". In Abendmahlslehre und Christologie waren davon auch jene Richtungen betroffen, die Huldrych Zwingli (1484–1531) und Johannes Calvin (1509–1564) folgten.31 Dies konnte Kepler nicht akzeptieren. Die Unterschrift unter die Konkordienformel war aber die Voraussetzung einer Anstellung an der Universität in Tübingen und der Teilnahme am Abendmahl. In Linz wurde er deshalb nicht zum Abendmahl des lutherischen Gottesdienstes zugelassen. Theologisch wurde ihm vorgehalten, er treibe in Glaubensdingen, die rational nicht zu erklären seien, Geometrie. Würde der christliche Glaube rationalisiert, drohe sein eigentlicher Grund, Gottes gnadenvolles Handeln, verstellt zu werden. Deshalb gehörten nicht auflösbare Paradoxa zur Sache der Theologie. Im Ringen um die Anerkennung seiner eigenen Position und die Zulassung zum Abendmahl sind Keplers theologische Schriften entstanden.32 Dazu gehört neben dem genannten Katechismus auch ein eigenes Glaubensbekenntnis (1618).33

Inhaltlich lehnt Kepler die logisch in der Tat aporetische, weil neuaristotelisch konzipierte lutherische Lehre von der Allgegenwart (Ubiquität), nicht nur der Gottheit, sondern auch der Menschheit des Leibes Christi und der Realpräsenz von Leib und Blut unter Brot und Wein im Abendmahl ab, während er der reformierten Lehre der Lokalisierung der Menschheit im Himmel und der geistigen Gegenwart Christi in der Abendmahlsfeier zustimmt und sich so auch zum reformierten Abendmahl einladen lässt. Dagegen kann er der reformierten Prädestinationslehre, der göttlichen Vorherbestimmung zu Heil oder Unheil, aus Vernunftgründen ebenfalls nicht folgen. Der katholischen Lehre von der Kirche mit ihrer Hierarchie kann er wiederum auch nicht zustimmen. Außerdem kann er die Lehre von der Wandlung der Hostie in den wahren Leib Christi während der Messe (Transsubstantiation), der zu Folge die Hostie angebetet werden kann, nicht annehmen. Hätte er sich dem Autoritätsanspruch der kirchlichen Hierarchie unterworfen, wäre ihm eine feste Stellung in kaiserlichen Diensten zu Prag sicher gewesen. Dem Druck zu konvertieren gab er jedoch nicht nach. So muss er beklagen:

Es thut mir im hertzen wehe / daß die drey grosse factiones die Warheit vnder sich also elendiglich zurissen haben / das ich sie stucksweise zusamen suchen muß / wa ich deren ein stuck finde. Ich hab sein aber nicht zuentgelten. Viel mehr befleiß ich mich / die Partheyen zu conciliiren, wa ich es mit der Warheit kan / damit ich es doch ja mit jhrer vielen halten könde.34

Kepler setzt auf ein allgemeines öffentliches Konzil der Konfessionen und stellt sich vor, dass dann die päpstliche Monarchie etwa durch eine bischöfliche Aristokratie ersetzt werden könnte. Er knüpft dabei hoffnungsvoll an Bestrebungen des englischen Königs Jakob I. (1566–1625) an, konfessionellen Frieden herzustellen, und findet dazu auch astrologische Hinweise.35 Entsprechend hat Kepler seine Weltharmonik von 1619 niemand anderem als Jakob I. selbst gewidmet. Als theologisches Fundament einer solchen Einigung bietet sich für ihn die harmonikale Sicht der Natur an, wie er sie in seinem Werk herausgearbeitet hat. Das Buch der Natur ist die Offenbarungsquelle, als dessen Priester er sich versteht. So wird ihm die Astronomie zum besonderen Gottesdienst.

Ausblick: Naturwissenschaft und Theologie im Gespräch

Was folgt daraus? Keplers Weltsystem hat auch bei seinen Zeitgenossen nur wenig Anklang gefunden. Das Sonnensystem ließ sich nicht als Beleg für die Endlichkeit der Schöpfung festschreiben. Die astronomische Forschung ging weiter. Heute kennen wir nicht nur seinen begrenzten Ort in der Milchstraße, sondern eine schier unendliche Fülle weiterer Galaxien. Der philosophische Ansatz von Cusanus und in seiner Nachfolge Giordano Brunos führte weiter. Eine wissenschaftstheoretische Perspektive der Unendlichkeit muss dem Schöpfungscharakter der Wirklichkeit aber nicht widersprechen: Die nächste geistesgeschichtliche Revolution nach der kopernikanischen – besser: brunoischen – Wende, die Entdeckung der Evolution, eröffnet neue Perspektiven auch für die Schöpfungstheologie.

Keplers Weltmodell war ein zeitgemäßer Ausgangspunkt für seine eigene weiterführende Arbeit und damit auch eine Anregung für die weitere Entwicklung sowohl der Astronomie, der Kosmologie und daran anknüpfend der Philosophie. Das gilt in besonderer Weise auch für die Theologie. Die Kepler'schen Gesetze stehen bis heute in jedem Schulbuch. Über eine Theologie der Natur muss jeweils neu nachgedacht werden. Der Schöpfungsbegriff lässt sich letztlich nicht an einer feststehenden Weltordnung festmachen, sondern drückt eine Beziehung aus: die Beziehung Gottes zu seiner Welt und den Menschen. Damit kann das wichtige Anliegen der orthodoxen Dogmatik aufgenommen werden: das Gottesverhältnis und das Geschick des Menschen zu thematisieren. Genau daran lag auch Kepler. Mit diesem seinem existentiellen Interesse weist seine Naturtheologie über sich selbst hinaus. Vernimmt der Astronom Gottes Sprache in der Natur, kann er sich kompetent auf das Gespräch mit der Theologie einlassen, und die Theologie wird solche existentielle Erfahrung des Naturwissenschaftlers in ihr Denken aufnehmen. Eine Naturtheologie wird nicht alles sein, was sie berücksichtigen muss. Was sie in der Wahrnehmung der Botschaft der Heiligen Schrift als ihr Eigenes zu sagen hat, wird sie aber so zur Sprache bringen, dass ihr der Naturwissenschaftler intellektuell redlich folgen kann. Das jedenfalls ist die Aufgabe, die ihr und der Kirche gerade Johannes Kepler gestellt hat.

Jürgen Hübner

Anhang

Quellen

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Literatur

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Weber, Hans Emil: Die philosophische Scholastik des deutschen Protestantismus im Zeitalter der Orthodoxie, Leipzig 1907 (Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte; 1).

Anmerkungen

  1. ^ Ritter, Christliche Kosmologie 2004.
  2. ^ Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit 1988; vgl. Ders., Die Genesis der kopernikanischen Welt 1975.
  3. ^ Flasch, Nikolaus von Kues 2004, S. 36.
  4. ^ Diese Tendenz verfolgt beispielsweise das Buch von Illmer, Die göttliche Mathematik 1991.
  5. ^ Hübner, Art. "Kopernikus, Nikolaus (1473-1543)" 1989.
  6. ^ Luther, Weimarer Ausgabe 20 1898, S. 514, Z. 27–30, übertragen in heutiges Deutsch.
  7. ^ Vgl. Hübner, Die Theologie Johannes Keplers 1975, S. 210, Anm. 2.
  8. ^ Vgl. Hübner, Die Theologie Johannes Keplers 1975. S.210–229.
  9. ^ Keplers eigene Auslegung von Jos 10, in: Kepler, Gesammelte Werke 1937 vol. 3, 29, 38ff.
  10. ^ Vgl. Weber, Die philosophische Scholastik 1907.
  11. ^ Johannes Kepler, Selbstzeugnisse 1971, S. 16–30.
  12. ^ Vgl. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt 1983.
  13. ^ Mysterium cosmographicum 1596, Praefatio, in: Kepler, Gesammelte Werke 1938, vol. 1, S. 13, Z. 18–23, Übersetzung von Max Caspar, in: Ders., Johannes Kepler 1995, S. 68.
  14. ^ Vnterricht Vom H. Sacrament des Leibs vnd Bluts Jesu Christi vnsers Erlösers: Für meine Kinder/Hausgesind/vnd Angehörige…, 1623, Kepler, Gesammelte Werke 1990 vol. 12, S. 9–18.
  15. ^ Kepler, Gesammelte Werke 1937 vol. 3; vgl. deutsch: Ders.: Astronomia nova 2005.
  16. ^ Bialas, Johannes Kepler 2004, S. 63.
  17. ^ Kepler, Gesammelte Werke 1940 vol. 6.
  18. ^ Kepler, Gesammelte Werke 1955 vol. 8, S. 5–128.
  19. ^ Vgl. Keplers Astronomiae pars optica 1604, in: Kepler, Gesammelte Werke 1939 vol. 2; Bialas, Johannes Kepler 2004, S. 108–112.
  20. ^ Bialas, Johannes Kepler 2004, S. 84.
  21. ^ Dioptrice 1611, in: Kepler, Gesammelte Werke 1941 vol. 4, S. 327–414.
  22. ^ Bialas, Johannes Kepler 2004, S. 115, vgl. ebd., S. 112–119.
  23. ^ Kepler, Gesammelte Werke 1939 vol. 2, S. 36: "lux animae soboles", vgl. Bialas, Johannes Kepler 2004, S. 108.
  24. ^ Kepler, Gesammelte Werke 1955 vol. 8, S. 113, Z. 18ff.; vgl. Hübner, Die Theologie Johannes Keplers 1975, S. 276.
  25. ^ "vt ab ijs, quae, quod sint, oculis cernimus, ad causas quare sint et fiant, contenderemus", vgl. Kepler, Gesammelte Werke 1938 vol. 1, S. 6, Z. 30f. (Mysterium cosmographicum,1 epistola dedicatoria).
  26. ^ Bialas, Johannes Kepler 2004, S. 102.
  27. ^ Kepler, Gesammelte Werke 1969 vol. 10.
  28. ^ Vgl. Kepler, Gesammelte Werke 1983 vol. 11/1, S. 7–460; Nachbericht S. 485–556.
  29. ^ Kepler, Gesammelte Werke vol. 12/2 , S. 315–438; vgl. Lombardi: Johannes Kepler 2000, S. 97–103.
  30. ^ Im Einzelnen dazu Hübner: Die Theologie Johannes Keplers 1975.
  31. ^ "Nos enim omnia, quae supra commemoratae et in verbo Dei bene fundatae doctrinae non consentiunt, sed repugnant, reiicimus atque damnamus." Konkordienformel, Solida Declaratio VII, in: BSLK S. 1016, Z. 32–36.
  32. ^ Kepler, Gesammelte Werke 1937 vol. 12, S. 7–62; Nachbericht von J. Hübner, S. 269–322.
  33. ^ N.N. Glaubensbekandtnus vnd Ableinung allerhand desthalben entstandener vngütlichen Nachreden 1523, Kepler, Gesammelte Werke 1990 vol. 12, S. 21–38; Nachbericht S. 291–295.
  34. ^ Kepler, Gesammelte Werke 1990 vol. 12, S. 27, Z. 16–20.
  35. ^ Näheres dazu und die Bedeutung des Erzbischofs von Split, Marcus Antonius de Dominis (1560–1624), bei Hübner, Die Theologie Johannes Keplers 1975, S. 71–76.