In einem umfangreichen Immediatbericht an Kaiser Wilhelm II. vom 12. Juli 1903 zeichnete der Oberpräsident der Provinz Posen, Wilhelm von Waldow (1856–1937), den Beginn der Anwerbung von Russlanddeutschen nach. Im Vordergrund stand dabei die Rolle der 1886 gegründeten Königlich preußischen Ansiedlungskommission für Westpreußen und Posen, deren stellvertretender Präsident Wilhelm von Waldow war. Die preußische Regierung hatte am 26. April 1886 das finanziell sehr gut ausgestattete – bis 1914 wurde knapp 1 Milliarde Goldmark verausgabt – Ansiedlungsgesetz erlassen, um in den preußischen Provinzen Posen und Westpreußen polnischen Landbesitz zur Ansiedlung deutscher Bauern aufzukaufen. Der Ansiedlungskommission galt die Anwerbung russlanddeutscher Bauern als landwirtschaftliche Siedler für den preußischen Osten als wichtige Maßnahme zur Stärkung des deutschen Bevölkerungsanteils gegen die als "Reichsfeinde" eingestuften Preußen polnischer Nationalität und Muttersprache, die im Verdacht standen, einen polnischen Nationalstaat gegen die drei Teilungsmächte Preußen, Österreich-Ungarn und Russland wiederherstellen zu wollen.
Transkription
Seit dem Jahre 1880 ist die Auswanderungsbewegung von Deutschland nach Rußland nicht nur zum Stehen gekommen, es macht sich sogar seit Ende der 80er Jahre in den Kolonien eine starke Abwanderung nach Amerika bemerkbar. Der Zug geht über Odessa und Libau oder über Eydtkuhnen, Prostken und Illow nach deutschen Häfen.
Das Erscheinen zahlreicher russischer Auswanderer deutscher Zunge auf den Grenzstationen lenkte schon seit 1890 die Aufmerksamkeit der preußischen Staatsbehörden insbesondere der Ansiedelungskommission auf sich. Es wurde schon damals in Erwägung gezogen, die Auswanderungsbewegung für die kolonisatorischen Zwecke der Ansiedelungskommission und der Königlichen Generalkommission in Bromberg zu nutzen.
Vereinzelte Rückwanderer aus Rußland hat die Ansiedelungskommission schon in den ersten Jahren ihres Bestehens angesiedelt. Die Leute kamen theils aus den russischen Grenzbezirken, theils aus Südrußland. Sie waren in der Mehrzahl sehr wenig bemittelt, mußten infolgedessen mit erheblicher Unterstützung bedacht werden, um fortzukommen, und fühlten sich, an andere Verhältnisse und eine andere Wirthschaftsweise gewöhnt, in Deutschland nicht wohl, gaben sogar zum Theil ihre Stellen wieder auf. Die Ansiedelungskommission glaubte daher, dort kein brauchbares Ansiedlermaterial gewinnen zu können und verzichtete vorläufig, solange sie nämlich selbst in den Anfangsjahren nach festen Grundsätzen für die Besiedelung suchte, auf das Experiment, russische Rückwanderer in größerem Maße anzusetzen.
Seit 1898 machte sie Versuche, eine Agitation nach Rußland hineinzutragen. Die Schwierigkeit der Gewinnung der Auswanderer lag vor Allem darin, daß sie mit Fahrtkosten nach Amerika versehen an der Grenze ankamen und sich nicht darauf einließen hier zu bleiben. Bis zum Ende des Jahres 1899 belief sich die Zahl der angesiedelten Rückwanderer aus Rußland nur auf rund 120 Familien.
Erst im Jahre 1901 als die zweite Erhöhung des Ansiedlungsfonds um 150 Millionen [Mark] die Möglichkeit gewährte, das Besiedelungsgeschäft im großen Umfange aufzunehmen, hielt der damalige Präsident der Ansiedelungskommission die Zeit für gekommen, den Zug der deutschen Russen in planmäßiger Weise in die Ansiedelungsprovinzen zu lenken. Der Herr Reichskanzler hatte schon 1898 sein Einverständnis mit der Einleitung einer Agitation in Rußland selbst erklärt, aber nur unter der Bedingung, daß die Agitation sehr vorsichtig betrieben werden, lediglich als private erscheine und jeden Schein einer Beziehung zur Ansiedelungskommission vermeide. Die daraufhin unternommene Verbreitung von Zeitschriften hatte jedoch keinen rechten Erfolg gezeitigt. Die neue Agitation wurde daher in viel größerem Stile eingeleitet und die Vorsicht dabei nur insofern gewahrt als Privatpersonen als Träger der Reklame vorgeschoben wurden.
Als Vertrauensmann war insbesondere ein in Thorn wohnhafter, wegen politischer Umtriebe aus Rußland ausgewiesener früherer Lehrer einer deutschen Kolonie Wolhyniens gewonnen worden, der zahlreiche Beziehungen nach Rußland hatte. Ferner wurde Verbindung mit der Auswanderungsfirma Missler in Bremen, der Kommissionsfirma für den Lloyd [Norddeutscher Lloyd] und die Packetfahrt [HAPAG] angeknüpft. Es gelang außerdem mit Hilfe des alldeutschen Verbandes von einer deutschen Zeitungsredaktion in Odessa in Südrußland und durch einen deutschen Geschäftsmann in Warschau in Russisch-Polen zahlreiche Adressen zu bekommen. Durch Vermittelung dieser Stellen, vor allem durch den Thorner Vertrauensmann, wurden nun seit Mitte des Jahres 1901 Flugblätter, die die Ansiedelungsbedingungen enthielten, und zur Auswanderung nach Posen und Westpreußen aufforderten, zu vielen Tausenden in den deutschen Kolonien verbreitet. Auf eine Agitation in der Wolgagegend musste mangels geeigneter Verbindungen dorthin vorläufig verzichtet werden. Die Flugblätter gingen sämmtlich unter Deckadressen, zum großen Theil wurden sie vom russischen Gebiet aus versandt, um die Aufmerksamkeit der russischen Behörden nicht zu erwecken.
Es darf angenommen werden, daß in alle deutschen Kolonien Wolhyniens und Südrußlands Flugblätter gelangt sind.
Der Erfolg der Agitation zeigte sich bald in zahlreichen Anfragen aus den Kolonien. Es wurden, theilweise auf Kosten der Ansiedelungskommission, Vertrauensmänner herübergeschickt, die die Ansiedelungsgüter besichtigten, für Bekanntschaft und Verwandtschaft Stellen aussuchten. Ihnen folgte ein ständig wachsender Strom von Rückwanderern ...
Die Abwanderung vollzieht sich vor Allem aus Wolhynien ... Viele Ansiedler liefern auch die Grenzbezirke (Kalisch, Plotzk, Warschau), der schwächste Strom fließt aus Südrußland.
Dieser Unterschied entspricht der Verschiedenartigkeit der Verhältnisse, die die Kolonisten zur Auswanderung treiben.
Der Grund für die Abwanderung ist nämlich nicht in erster Linie die Agitation der Ansiedelungskommission – diese giebt nur dem Strome die Richtung nach Deutschland –, die eigentliche Veranlassung liegt auf anderem Gebiete und ist für die einzelnen Bezirke verschieden ...
Durch Ukas [des russischen Zaren] vom 7. Februar 1897 ist die bisher von den lutherischen Predigern im deutschen Sinne verwaltete Kolonistenschule dem Ministerium der Volksaufklärung unterstellt und in eine Schule mit russischer Unterrichtssprache verwandelt worden. Gegen diese Maßnahme, die auf die Dauer die Russifizierung der Kinder in den Kolonien bedeutet, reagirt das starke Nationalgefühl des Kolonisten mit großer Energie. In diesem Kampfe gegen die russische Verwaltung weckt ihm das Flugblatt der Ansiedelungskommission die Sehnsucht nach der alten deutschen Heimath, wo er als Deutscher unter Deutschen leben kann.
Anhang
Quellennachweis
Oberpräsident in Posen an Kaiser Wilhelm II. in Berlin, 12.07.1903, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch B), R 901, Nr. 30007. URL: https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/82e73b23-f41a-4636-a44a-089c8cd9c501/ (Findbucheintrag) [2020-06-09]